Mangas und Animes sind für mich eher „terra incognita“, insofern mögen es die Fans dieses Genres mir bitte nachsehen, wenn ich nicht mit detailliertem Fachwissen glänzen kann.
Die Gelegenheit, animierte Werke des berühmten Horrorzeichners Junji Ito als Serie zu betrachten, konnte ich mir aber dennoch nicht entgehen lassen, auch wenn ich den Künstler de facto nur von seiner (natürlich abweichenden ) Live-Action-Verfilmung „Uzumaki“ kannte.
12x24 Minuten Anime klangen nach einem verführerischen Häppchen und wenn man bedenkt, dass jede Folge eine Minute Vorspann und über drei Minuten Abspann mit sich führt, ist der Platz zum Geschichtenerzählen begrenzt, allerdings sind auch die Stories eben nicht immer von epischer Länge.
Insgesamt handelt es sich bei der Serie um 20 verfilmte Geschichten, achtmal wurden zwei Stories in eine Episode kompiliert, viermal bestreitet eine Geschichte die komplette Episode.
Beeindruckt war ich davon, wie beschönigungsfrei die Adaptionen hier durchgezogen wurden, generell kennt man ja im Westen selbst bei griffigen Horror-Gore-Themen wie „Tales from the Crypt“, dass ggf. Splatter mit mehreren Schüssen Humor in eine moralische Straf- oder Schuld-und-Sühne-Handlung eingebettet werden und per se muss es immer noch halbwegs familienfreundlich goutierbar sein.
Nun, Humor ist auch hier teilweise vorhanden, aber eher als begleitendes Element, denn das Makabre, das Groteske, der Einbruch des Unheimlichen in die Realität und die Unausweichbarkeit der übernatürlichen Mächte machen einen Großteil des Reizes aus.
Dabei sind einige Geschichten bis ins Detail – auch erzählerisch – ausgearbeitet, manche Stories wirken allerdings wie Skizzen, die nicht weiter gedacht wurden, um einfach nur eine Reaktion (Angst, Terror, Verzweiflung) zu provozieren, aber ohne zwingende „closure“.
Ein bisschen schwierig ist es, wenn man wirklich mit der ersten (langen) Episode der Hikizuru-Geschwister anfängt (und sich nicht auskennt), denn gerade diese wirkt trotz der übernatürlichen Elemente wie eine latent freakige Groteske, da die Geschwister wie eine dysfunktionale Familie wirkt, der man alles zutraut, was der „normalen“ Geisterfotografin nach ihrem Kontakt zustoßen könnte. Über diesen Stolperer – die Story ist sehr laut und übertrieben – muss man erst einmal hinweg.
Große Meisterschaft sind aber die anderen längeren Erzählungen „Hängende Köpfe“ und „Stadt der Gräber“, die ihre abgründigen Geschichten mit gnadenloser Konsequenz zu ende erzählen. Dabei ist „Hängende Köpfe“ ziemlich schnell ziemlich offensichtlich, bietet aber – wie so oft in dieser Sammlung – keinerlei Erklärung für die Geschehnisse, wobei man natürlich alles über Flüche abrechnen kann. Aber es gibt grimmige Wendungen und die schwebenden Henkersköpfe sind schon nicht sonderlich kinderfreundlich. „Stadt der Gräber“ ist eine gut ausgearbeitete Übung in typischem Geschichtenerzählen, allerdings in einem sehr kreativen und ungewohnten Umfeld: einer Stadt, in der Grabsteine entstehen, wo auch immer die Menschen gerade sterben. Das alles im Gewand einer Schuld-und-Sühne-Story, bei der die Figuren alles aus Angst immer nur noch schlimmer machen. Gerade die Offensichtlichkeit des Unausweichlichen, die logische Konsequenz macht die Story so wirksam.
Die unvermeidliche „Tomie“-Story (einer von Itos größten Erfolgen ist die sukkubus-ähnliche Tomie, die die Männer in den Wahnsinn treibt und immer wieder neu entsteht) ist nicht sonderlich gut ausbalanciert, auch etwas schrill und kann sich nicht recht entscheiden, zu welcher Figur sie hält, aber gezeichnet ist sie großartig.
Was die Kurzgeschichten angeht, so ist auch da überraschenderweise kein Rohrkrepierer dabei, meistens haben selbst die Skizzen einen monströsen Reiz, machen dann eben nur nicht ganz satt.
Einige – z.B. die des „mysteriösen Tunnels" haben größeres Potential, überschlagen sich dann aber mit Wendungen, um dann entgegen des Potentials einfach nur auszulaufen.
„Das unerträgliche Labyrinth“ etwa führt schon vom Titel her ins labyrinthische Verderben, versäumt es aber, den drei Figuren oder dem Mönchsorden einen tieferen Sinn mitzugeben. „Schimmel“ ist visuell horribel und deswegen allein sehr stark, bietet aber keinerlei Erklärungen an und hinterlässt einige Fragezeichen, warum der Erzähler und Protagonist vieles scheinbar Übernatürliche lange nicht wahrzunehmen scheint. „Die Gasse“ ist hinreichend creepy für eine Geistergeschichte, entscheidet sich dann aber auf der Schlussgerade für fragwürdige Entscheidungen des Antagonisten (der sich vorher immer solide abgesichert hatte), um dann komplett offen zu enden.
Eher mystisch verdreht sind die Stories um das gestrandete Seewesen und „Vision in der Bibliothek“, wobei Letzteres wie ein Poe-scher Abstieg in den Wahnsinn verstanden werden könnte. Auf schrägen Humor setzen eher „4x4 Wände“ und „Soichis geliebtes Haustier“, welche beide den dämonisch-debilen stahlnägelkauenden Bruder beinhalten. Gerade die erste Geschichte ächzt vor „impending doom“, nimmt dann aber eine ungewöhnliche Wendung.
Purer Terror ist am besten in „Der Eiswagen“ und „Die kopflose Statue“ zu haben, da splattert es auch mal oder rutscht in den Body Horror ab. Der Gipfel des dargestellten grotesken Wahnsinns ist sicherlich in „Schichten des Schreckens“ zu haben, bei dem ich einige Male selbst kaum glauben konnte, wie weit die Bizarrerien noch gehen.
Klassischen asiatischen Geisterhorror bietet „Langes Haar auf dem Dachboden“, aber am schwersten verträglich ist sicherlich „Der Fiesling“ – eine Story, die erst auf den letzten Metern einen übernatürlichen Schwenk bekommt, vorher aber allein durch die Quälereien der kindlichen Protagonistin gegenüber einem kleinen Nachbarskind praktisch unmöglich zu genießen ist. Soziopathie meets dämonischer Einfluss mit einem beeindruckenden Storykniff.
Wer sich also mal herzerfrischend gruseln oder schockieren lassen möchte, ist bei dieser vielfarbigen und sehr ausgewogen unausgewogenen Sammlung genau richtig, denn einige Plots oder Bilder haben das Potential, den Zuschauer noch sehr lange zu verfolgen, sei es nun von der Pointe oder von der grotesken ausgearbeiteten Idee her. Die Animation ist guter Standard, wobei die Bilder manchmal meisterhaft in Atmosphäre, Leuchtkraft oder Farbe (bzw Nicht-Farbe) daherkommen. Für mich eine der besten Entdeckungen, die Netflix auf der Pfanne hat. (8/10)