Auch strahlende Oscar-Gewinnerinnen backten einst kleine, schmierige Exploitation-Brötchen. Sechsundzwanzig Jahre, bevor sie mit einem der begehrten Academy Awards für ihre Leistung als beste Nebendarstellerin in The Fighter ausgezeichnet wurde, spielte die 1960 geborene New Yorkerin Melissa Leo die junge Prostituierte Cookie, die in den messerscharfen Fängen des Zuhälters Duke (Dale Midkiff, Pet Sematary) landet. Die blutjunge, naive Ausreißerin, die zusammen mit ihrem kleinen Bruder Tim (Randall Batinkoff) vor ihrem gewalttätigen Stiefvater geflohen ist, sieht in Duke einen netten, fürsorglichen Beschützer und verliebt sich prompt in ihn. Auf ihr zärtlich hingehauchtes "I love you" entgegnet Duke nur selbstsicher: "I know you do, girl." Doch als Duke ihre Freundin Heather (Deborah Offner) brutal zusammenschlägt, ist die rosarote Brille schlagartig futsch. Cookie sagt sich von ihm los und sucht Schutz bei der schwarzen Konkurrenz, woraufhin Duke völlig ausrastet und auf den psychopathischen Spuren von Ramrod (Wings Hauser in Gary Shermans Vice Squad) wandelt. Leichen pflastern seinen Weg...
Streetwalkin' kommt langsam aber gewaltig. Einige Zeit glaubt man, der Film tritt auf der Stelle, da nichts passiert, was die Handlung wesentlich vorantreibt. Die erste Hälfte des Streifens funktioniert mehr als Milieuschilderung denn als Spielfilm, mit viel Lokalkolorit, wurde Streetwalkin' doch großteils am New Yorker Times Square gedreht. Inwieweit diese Bordsteinschwalbenchronik authentisch ist, wage ich nicht zu beurteilen, aber das ist auch nicht wirklich relevant, da es einfach perfekt funktioniert. Man taucht ein in diese nächtliche Scheinwelt, die einerseits seltsam fasziniert, wo man andererseits aber heilfroh ist, nicht Teil davon sein zu müssen. Hier punktet der von Steven Fierberg wunderbar photographierte Streifen mit einer dichten Atmosphäre, die verführerisch glitzert und bedrohlich funkelt. Die Frauen, die Manhattans illegalen Straßenstrich bevölkern, sind höchst unterschiedlich, und doch verbindet sie eine Art kollegiale Freundschaft. Da spielt es keine Rolle, für welchen Stall sie laufen.
Im Zentrum des Geschehens steht natürlich Cookie, die nicht nur ein gutes Herz hat und sehr sympathisch ist, sondern mit ihrer natürlichen Schönheit und ihrer wallenden roten Haarmähne auch noch spektakulär aussieht. Mit der spontanen aber notwendigen Abnabelung von Duke gerät ihre bis dahin heile Nuttenwelt (sofern es so etwas überhaupt gibt) ins Wanken, denn der zeigt daraufhin seine wahre, häßliche Fratze und steigert sich in einen wahnsinnigen Gewaltrausch. Mit Dukes Jagd auf Cookie tritt Streetwalkin' das Gaspedal durch; gleichzeitig beginnt sich eine mörderische Spannung aufzubauen, die bis zum Ende anhält und sich im furiosen Showdown entlädt. Und das heftige Finale sorgte bei mir ob seiner kaltschnäuzigen Brutalität (vor allem gegen Frauen) für ein richtig flaues Gefühl in der Bauchgegend. Das ist nicht nur ungemein mitreißend, sondern auch verdammt kraftvoll und schmerzhaft intensiv.
Obwohl sich in Streetwalkin' jede Menge Huren tummeln, ist der von Joan Freeman inszenierte Film in Bezug auf Sleaze und Nacktheit sehr zurückhaltend. Außerdem gibt es keine einzige richtige Sexszene, was doch einigermaßen überrascht. In einer schönen Nebenrolle als Queen Bee ist Julie Newmar zu sehen, die bereits in der berühmten TV-Serie Batman (1966 - 1968) als Catwoman ihre sexy Krallen zeigte. Und Ex-Pornostar Samantha Fox (Jack + Jill, Amanda by Night) hat einen kurzen Auftritt als nackte Tänzerin. Ich hatte mir im Vorfeld ja einen guten Film erhofft. Daß er dann so toll ist, hat mich dann doch gleichermaßen erstaunt wie erfreut. Streetwalkin' ist tatsächlich auf Augenhöhe mit Vice Squad; letzterer hat zwar den besseren Psychopathen, dafür gleicht ersterer mit Melissa Leos zentraler Performance aus.
Streetwalkin' ist definitiv kein Film, für den sich Melissa Leo schämen müßte. Ganz im Gegenteil, der Film ist ein großartiger, unter die Haut gehender Reißer, der bleibenden Eindruck hinterläßt. 1991 gab es mit Angel in Red (Angel in Red - Blutspur auf dem Sunset Strip) ein überflüssiges und darüber hinaus schwaches Remake, das trotz nahezu identischer Story so ziemlich alles vermissen läßt, was Streetwalkin' so herausragend macht.