Der Gerichtssaal deines Misstrauens
Sandra Hüller hat 'nen Lauf! Während sie hierzulande schon lange höchstes Ansehen genießt, hat nun auch der Rest der Welt ihre Natürlichkeit, ihr Talent und Charisma entdeckt. Was spätestens die diesjährige Oscarnominierungsliste eindrucksvoll und mehrfach beweist. „Anatomie eines Falls“ ist allerdings noch aus dem europäischen Kino, in Frankreich entstanden. Mit Preisen bereits überhäuft. Nach Monaten noch immer / schon wieder in den deutschen Kino (und gut besucht dort). Und ganz klar einer der feinsten und nuanciertesten Filme der Saison. Eines der vielschichtigsten Gerichtsdramen, die je gemacht wurden. Zweieinhalb fesselnde und sehr realistische Filmstunden. Erzählt wird über eine deutsche Schriftstellerin und ihre Familie in den französischen Alpen, deren Mann an einem strahlenden Wintertag tot vor dem Haus liegt, womit sie schnell zur Hauptverdächtigen wird und ihre Beziehung penibel unter die Lupe genommen wird…
Im Zweifel für die Angeklagte
„Anatomie eines Falls“ beginnt wie ein klassischer Krimi, Thriller und Whodunit. Ein Gerichtsdrama der dialoglastigeren Sorte. Doch schnell merkt man: hier geht’s gar nicht um die mögliche Täterin. Oder zumindest nicht um ihre mögliche Tat. Sondern um Ehen und Vertrauen, um Erzählpositionen und Wahrheiten, um Leidtragende und Egoisten, Blickwinkel und Kinder, um die Vielschichtigkeit von Beziehungen, von Beobachtern und… Hunden?! Es geht gänzlich darum, was wir uns als Zuschauer für ein Bild machen, wem wir Glauben schenken und wem wir eher nicht trauen. Es geht um Verdrehungen der Wahrheit und was die „Wahrheit“ überhaupt ist. Für jeden wohl etwas anderes. „Anatomie eines Falls“ liegt, lungert und lauert noch lange im Gedächtnis. Mit vielen Theorien, offenen Fragen und positiven „Enttäuschungen“. Selten schaffte es ein Film besser Klischees und Vorurteile zu unterlaufen oder gar von vorne herein zu umgehen. Sandra Hüller bzw. ihre Figur ist alles andere als perfekt - aber gerade das macht sie so stark und menschlich. Melodrama Fehlanzeige. Sehr sachlich, sehr zeitlos, sehr intelligent. Understatement total. Selbst wenn sich ein Teil von mir noch bis zum oder sogar noch während des Abspanns mehr Spannung, Klarheit oder Auflösung gewünscht hätte - doch dann hätte „Anatomie eines Falls“ wohl sein selbstgestecktes, ambitioniertes und andersartiges Ziel verfehlt. Justine Triets „Rashomon“-Variation ist allerdings gut so, wie sie ist. Super gut sogar in den besten Phasen.
Fazit: überhaupt nicht trocken, überhaupt nicht theoretisch, überhaupt nicht affektiert - „Anatomie eines Falls“ zeigt als europäischer Qualitätsfilm Hollywood einmal mehr wie es geht. Komplex und konkav. Und Sandra Hüller ist wieder mal über jeden Zweifel erhaben!