Review

Lanthimos' Frankennarbie

Yorgos Lanthimos macht keine Filme für jedermann. Aber „Poor Things“ kommt diesem Gedanken wohl am nächsten, hat nicht umsonst die diesjährigen Oscars stark mitgeprägt und ist sein bisher eingängigstes, elegantestes, extravagantestes Werk. Aber vielleicht überschätze ich den durchschnittlichen Zuschauer auch und das Ding bleibt eine künstlerische und tabutechnische Herausforderung. Mit den Möglichkeiten und Stars, die Hollywood ihm nun bietet, zieht Lanthimos eine Art skandalöse Anti-Barbie hoch, lässt Emma Stone wohl in mehr Sexszenen auftreten als im gesamten Rest ihrer Karriere und diskussionswürdig/polarisierend das Gehirn eines Kindes in den Körper einer erwachsenen Frau transplantieren, die dann auf eine surreale Reise der bitteren Erkenntnisse zwischen falscher Freiheit, vagem Frieden und Federkissenfegefeuer gerät…

Freiheit für Frau Frühreif

„Poor Things“ könnte nicht zeitaktueller und thematisch passender sein. Seine Themen der Emanzipation, der Reife, der Gleichberechtigung und der systematischen Unterdrückung von Frauen bleiben ein akuter Dauerbrenner. Zusammen mit Lanthimos' eigenwilligem Stil ergibt's durchaus Sinn, dass auch diese erweiterte und gekippte Frankenstein-Variante viel Gegenwind erhält. Wundert mich eigentlich, warum er nicht noch deutlich mehr Hate abbekommt. Ich finde ihn jedoch grandios. Durch und durch! Er sieht prächtig aus - das Spiel mit den Linsen, den Farben, wie Kulissen und CGI sich ergänzen und verlaufen. Ganz famos. Eine Augenweide. Dazu ein sehr aggressiver und verspielter Score, mal harmonisch, meist aber knirschend und provozierend, experimentell. Krasse Masken und Kostüme. Eine Emma Stone, wie man sie noch nie gesehen hat. Mutig und ohne Fallnetz. Alles immer auf den Zehenspitzen zwischen Groteske, Horror, Theaterstück und Fantasyepos changierend. Der Punkt „Männer, die Frauen auf verschiedenste Weise einsperren“ wird etwas oft wiederholt. Aber es bleibt nunmal Kernstück. Reizend, aufreizend, diskutabel. Und das mit voller Absicht. Allein der Punkt der „Kindlichkeit“ mit Sex verwoben. Doch genau das ist eine von Lanthimos' Stärken. Der Mann hat Eier, der Mann hat nicht zu viel Respekt vor Tabus, der Mann schafft Reibung, der Mann durchbricht Barrieren und Grenzen. Sicher manchmal auch das guten Geschmacks. Gut so! Schönheit trifft Dreckstück, Hülle trifft Seele, Körper trifft Geist, Ekel trifft Reiz. „Poor Things“ ist keine leichte Kost - kratzt aber für mich ganz klar jetzt schon am Klassikerstatus und ist eines der aufregendsten Kinoereignisse des Jahres! 

Griechische Tragödie - mit Hoffnungsschimmer! 

Fazit: visuell verspielt und berauschend, schauspielerisch erhaben und mutig, thematisch vielschichtig und doch klar, erzählerisch eventuell etwas redundant. Aber trotz seiner stolzen Lauflänge nie ermüdend. Und der für mich zudem bisher lustigste und zugänglichste Lanthimos. Auf perverse Weise. „Poor Things“ ist jetzt schon ein kreativer Emanzipationsfilmklassiker. Gerade weil sich viele an ihm reiben. Ziel erreicht. Zucker und Peitsche. 

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