Miyazakis Meereshintergrundrauschen
Oft wurde es schon so angekündigt oder vermarktet, nun ist er wohl endgültig da: der letzte Film von Studio Ghibli-Mastermind und -Legende Hayao Miyazaki. Ein brachiales Event in Sachen Anime, zu dem zurecht die Massen (nicht nur in Japan) in's Kino rennen und für einen gezeichneten Blockbuster sorgen, der mit kaum etwas in dieser Richtung vergleichbar ist. Vom Erfolg aber auch seiner Qualität und Magie. Der wohl bisher persönlichste und tragischste Film Miyazakis - was was heißen will! „The Boy and The Heron“ erzählt von einem Jungen, der in den Flammen des Pazifikkrieges seine Mutter verloren hat und der mit seinem Vater zu dessen neuer Partnerin fährt, die seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten erscheint. Doch auf dem dortigen Anwesen gibt es noch wesentlich mehr zu entdecken als seine neue (schwangere!) Stiefmutter, vor allem einen etwas gruseligen Reiher, der ihn durch ein angrenzendes, sagenumwobenes Turmgebäude in eine andere, fantasievolle, aber auch gefährliche Welt lockt - mit dem Vorwand, dass seine echte Mutter dort noch lebt…
Man muss kein absoluter Kenner der Geschichte und des Privatlebens von Hayao Miyazaki sein, um „Der Junge & der Reiher“ genießen zu können - aber es hilft wahrscheinlich schon. So oder so ist ihm und seinem Team hiermit aber ein wirklich toller, emotionaler Fantasyfilm gelungen, der mich in seinen besten Momenten an ein paar meiner All-Time-Lieblinge erinnert hat. Von Ghibli selbst, aber auch an sowas wie „Labyrinth“ oder „Das letzte Einhorn“. Ganz sicher befindet sich „Der Junge & der Reiher“ in meiner Gunst nicht in der Nähe von totalen Meisterwerken wie Totoro oder Chihiro, dennoch ist er (erst recht im Vergleich zu anderen animierten Filmen aktuell) ein Must-See. Besonders wie gesagt, wenn man ein Herz für Ghibli und Miyazaki hat, kommt man nahezu voll auf seine Kosten. Der Ton und die Themen sind reif und wertvoll, tragisch und weitreichend. Die Wesen und Wunderwerke sind kreativ, süß, aber nie ganz ungefährlich oder für (kleinere) Kinder. Die Geschichte über Verlust und Neubeginn, Stiefmütter und das Erwachsenenwerden, seinen Stammbaum, die Familie, Erinnerungen, das Loslassen und Fortführen, die Möglichkeiten zukünftiger Generationen, sind essenziell, existenziell, extrem elegant verwoben. Der (meist vom Piano geprägte) Score ist ein Highlight und hat mir einige Male die Gänsehaut hochgetrieben, sensibel und sensationell. Kleine Witze und Details halten auch in langsameren Phasen bei Laune. Der Zeichenstil zwischen Aquarell und Anime ist einfach top. Ein Kunstwerk in vielerlei Hinsicht. Und somit behalte ich „Der Junge & der Reiher“ in guter bis sehr guter Erinnerung. Ich denke, er wird auch Rewatchs exzellent standhalten und neue Seiten entblättern, da die Geschichte, die Welten, die Themen sich fast zwiebelgleich übereinanderlegen und aufbauen, was man dermaßen stilvoll und klasse erstmal schaffen muss. Das kann dann eben doch nur Ghibli.
Fazit: kontemplativ und dicht, zauberhaft und ergreifend, wunderschön und wahrhaftig, kreativ und persönlich - ein wirklich würdiger Schwanengesang (?) für den/von dem vielleicht größten Künstler, den der animierte Film bisher hatte. Miyazaki ist der Walt Disney Japans. Ein Animeevent voller Staunen, Stille und Streben nach Perfektion.