Review

Strategen unter sich - Ridley Scott inszeniert Napoleon

Von einem bewaldeten Hügel aus beobachtet er die Szenerie. Seine Miene so eisig wie das Wetter. Gleich wird er den entscheidenden Feuerbefehl geben. Nur noch wenige Augenblicke, dann sitzt der Gegner in der Falle. Als dieser jene erkennt, ist es zu spät. Seelenruhig befiehlt er in die Stille: „Deckt die Kanonen auf“. Sekunden später wird der zugefrorene See zum nassen Massengrab.

In keiner Szene kommt Ridley Scott seiner Titelfigur näher als hier. Napoleon Bonaparte war sicher nicht nur ein genialer Stratege, der seinen Gegnern mit mathematischer Präzision und unkonventionellen Ideen jahrelang das Fürchten lehrte. Aber als militärisches Genie ist er in die Geschichte eingegangen und Scott zeigt keinerlei Ambitionen diese Reputation in Frage zu stellen. Im Gegenteil. Scott ist selbst ein großer Stratege und viel zu clever um einen hoffnungslosen Frontalangriff zu riskieren.

Und so lässt er Napoleon nicht auf dem Schlachtfeld scheitern, sondern im Schlafzimmer. Beim Liebesspiel mit seiner Gattin Josephine präsentiert er uns einen ganz anderen Napoleon. Hier ist er kein souveräner Lenker und Denker, sondern ein tölpelhafter Wüstling und Lüstling. Die ältere und sexuell erfahrenere Josephine weiß seine fast hündische Abhängigkeit geschickt zu nutzen um an seiner Seite in die höchsten Kreise aufzusteigen. Eine recht freie Interpretation der historischen Liaison, der die einschlägige Geschichtsschreibung trotz zahlreicher Affären der Kaiserin weder eine einseitige Liebe noch eine Unterwürfigkeit des mehrfach Gehörnten zuschreibt. Vor allem die in Legion erhaltenen ebenso feinsinnigen wie leidenschaftlichen Liebesbriefe Napoleons lassen Scotts profane Sexnummern als pure und möglicherweise bösartig motivierte Phantasie erscheinen.

Nun ist Ridley Scott nicht gerade für geschichtliche Akkuratesse bekannt. Ob die Entdeckung Amerikas ("1492"), das Rom Mark Aurels ("Gladiator") oder die mittelalterlichen Kreuzzüge ("Königreich der Himmel"), stets hagelte es Kritik seitens der Historiker. Auch in Napoleon finden sich zahlreiche Ungenauigkeiten und Anachronismen wie seine Anwesenheit bei der Hinrichtung Marie Antoinettes oder der Artilleriebeschuss der Cheops-Pyramide. Dass der Aufschrei diesmal aber größer ausfällt, dürfte weniger an solch dramaturgische motivierten Freiheiten liegen, als vielmehr an der wenig differenzierten Charakterstudie des bis heute bekanntesten Franzosen. Die Reduktion auf einen genialischen Militär und einen infantilen Rammler ist nicht nur widersprüchlich und historisch falsch, sondern auch unvollständig, da es dem ersten an Charisma und dem zweiten an Charme fehlt. Beides ist nicht nur historisch verbürgt, sondern schon allein dramaturgisch essentiell um dem Porträtierten nahe zu kommen. Dementsprechend unnahbar und blass bleibt Scotts Napoleon, der am ehesten der Sphinx gleicht, die er auf seinem Ägyptenfeldzug so eindringlich anstarrt.

Diese Distanz ist umso erstaunlicher, da Joaquin Phoenix nicht nur auf komplexe Charaktere abonniert scheint, sondern auch- man möchte fast sagen ironischerweise - mit einer anderen Kaiser-Interpretation unter der Ägide Scotts seinen Durchbruch als Charakterdarsteller feierte. Als seelisch gepeinigter und größenwahnsinniger Caesar Commodus stahl er „Gladiator“ Russel Crowe beinahe die Show und empfahl sich für die facettenreiche Personifizierung großer Fallhöhen. Eine solche gibt es auch bei Napoleon, schließlich führte sein Weg vom einfachen Artillerieoffizier auf den französischen Kaiserthron und wieder zurück auf die karge Einöde der Insel Helena, aber es fehlen die Facetten. Phoenix überzeugt sowohl als selbstbewusster Feldherr wie als amouröser Flegel, aber das auch von ihm selbst überarbeitet Skript lässt ihm keinerlei Raum für Nuancen oder gar Erweiterungen. Der historische Napoleon war witzig und geistreich, bei Phoenix und Scott ist er nur zotig. Der historische Napoleon war belesen, gedankenschnell und arbeitswütig, im neuen Film beschränkt sich all dies auf seine Korrespondenz mit Josephine. Das Problem liegt also weniger in dem was Scott und Phoenix zeigen, sondern in dem was sie nicht zeigen. Daraus resultiert sowohl ein schiefes wie auch ein unvollständiges Bild der Persönlichkeit Napoleons.

Bei seiner Ehefrau ist der Film austarierter, historisch korrekter. Josephine erscheint als ehrgeizige und clevere Frau, die sich ihrer erotischen Wirkung bewusst ist, diese sowohl als Waffe wie auch zum Vergnügen einsetzt, und es mit der Treue nicht so genau nimmt. Zwar nutzt sie Napoleon für den eigenen Aufstieg, ist aber nicht ausschließlich berechnend. Bei der Scheidung aus Gründen der Staatsräson - sie konnte dem Kaiser keine Kinder gebären -ist sie auch emotional am Boden zerstört und pflegt noch jahrelang eine ausführliche Korrespondenz mit ihrem ehemaligen Gemahl. Vanessa Kirby spielt diese zwischen Liebe, Egoismus und Vergnügungssucht mäandernden Charakter als zugleich starke und verletzliche Persönlichkeit und besteht den Präsenzwettstreit mit ihrem Costar bravourös. Dass auf der Leinwand dennoch nicht die Funken sprühen ist weder Kirby noch Phoenix anzulasten, vielmehr beweist Ridley Scott erneut, dass er Romantik nicht kann oder zumindest zu kühl abhandelt.

Seine Stärke ist die große Geste, sind die epischen Bilder, ist die inszenatorische Wucht. Wie seine Titelfigur ist auch er ein großer Stratege, ein Schlachtenlenker, der Hunderte von Komparsen scheinbar spielend durch unwegsames Gelände und aufwändig erbaute Kulissen manövriert. Wenn zwei oder mehr Armeen sich formieren um wenig später in einem ebenso wüsten wie brachialen Getümmel übereinander herzufallen ist er in seinem Element. Vier große Schlachten (Toulon, Austerlitz, Borodino und Waterloo) bilden gewissermaßen das Gerüst und dienen gleichzeitig der inhaltlichen Strukturierung in Aufstieg, Höhepunkt, Stagnation und Niedergang Napoleons. Vier Schlachten in denen Scott sich endgültig den Titel „Master of Warfare“ ins Portfolio schreiben darf. Immer wieder findet er Bilder, die sich ins Gedächtnis brennen (wie die im eiskalten und von Blutschwaden durchzogenen Nass langsam untergehenden Russen bei Austerlitz) und entfaltet dabei eine kinetische Energie, die den Zuschauer mitten ins Kampfgeschehen katapultiert. Bei „Gladiator“ ließ er sich bekanntlich von einem berühmten Historiengemälde (Jean-Léon Gérôme Pollice Verrso) inspirieren, was nur folgerichtig ist, denn seine Kriegs-Panoramen würden sich selbst vortrefflich in Museen machen. In Öl auf Leinwand wären zahlreiche Standbilder kaum von den Werken klassizistischer Historienmaler zu unterscheiden. Anders ausgedrückt: Scotts Monumentalfilme sehen wie Monumentalgemälde aus und umgekehrt.

Aber Scott kann nicht nur Massenszenen, er beherrscht auch die komplexe Kunst der Verdichtung und Raffung. In der ersten Stunde seines Napoleon-Films hetzt er durch 15 Jahre französischer (Revolutions-)Geschichte, zeigt uns die Schreckensherrschaft der Jakobiner, die Hinrichtung Marie-Antoinettes sowie den Staatsstreich von 1799 in kurzen Sequenzen und verknüpft diese mit der aktuellen Lebens- und Karriere-Phase Napoleons. Auch hier rettet Scott seine plastische Bildsprache vor dem drohenden Überblicksverlust. Auch ohne fundierte Geschichtskenntnisse kann man dem Ablauf der Ereignisse folge und bekommt einen Eindruck von der fiebrigen, hektischen und aufgeheizten Stimmung dieser Zeit. Erst mit der Kaiserkrönung Napoleons drosselt Scott das Tempo, so dass sein schleichender Niedergang einen Kontrast zu seinem rasanten Aufstieg bildet. Das ist dramaturgisch geschickt gelöst, wobei dennoch beides am Ende zu lückenhaft bleibt.

Und daraus folgt das entscheidende Manko des Films, er ist schlicht zu kurz. Für ein derart ereignisreiches Leben sind zweienhalb Stunden deutlich zu knapp bemessen. Darunter leidet vor allem die Hauptfigur. Napoleon war nicht nur famoser Krieger, sondern auch visionärer Staatsmann. Viele seiner politischen Entscheidungen und Errungenschaften gelten in Variationen bis heute, nicht nur das bürgerliche Gesetzbuch des „Code Civil“. Sein ausgeprägtes Verständnis für gesellschaftspolitische Zusammenhänge und Notwendigkeiten, gepaart mit einer schnellen Auffassungsgabe und einem scharfen Verstand machten ihn zu einem der einflussreichsten vor allem aber wirkungsmächtigsten Politiker der französischen und europäischen Geschichte. Nichts davon ist in Scotts Werk zu spüren, nicht einmal andeutungsweise. Sein Fokus liegt dagegen auf der (behaupteten) Diskrepanz zwischen omnipotenten Militär und rüpeligen Privatmann. Ob er dem „wahren“ Napoleon damit sehr nahe kommt darf ernsthaft bezweifelt werden, die geballte französische Historikerelite jedenfalls zeigte sich wenig amused nach einer Sondervorstellung des Films. Zu bruchstückhaft, zu historisch unscharf habe Scott sein Sujet behandelt, vor allem aber zu negativ und profan habe er seine Hauptfigur präsentiert.

Aber womöglich kann hier bald zumindest teilweise Entwarnung gegeben werden. Unlängst hatte Ridley Scott verkündet eine vierstündige Fassung von „Napoleon“ geschnitten zu haben. Für eine Kinoauswertung war diese verständlicherweise zu lang, aber für den Finanzier der 200 Millionen Dollar Produktionsbudget ist dieser „Director´s Cut“ ein Volltreffer. Denn so können die Apple Studios auf ihrer Streamingplattform das "wahre" Werk des Meisterregisseurs veröffentlichen und somit die volle Ernte ihrer Prestige-Saat einfahren. Der Werdegang und die politische Bedeutung Napoleon Bonapartes werden durch die zusätzlichen 90 Minuten sicher greifbarer und nachvollziehbarer werden, ob er damit aber auch als Mensch facettenreicher erscheint, bleibt abzuwarten. Große Männer der Geschichte hat Scott selten mit Samthandschuhen angefasst und Napoleon gilt nach wie vor als einer der Größten. Man muss kein großer Prophet sein um zu prognostizieren, dass der Sockel auch nach vier Stunden noch wackeln wird.

Details