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Nach unserer Rettung aus dem Moor erwarteten alle von mir, dass ich meinen Vater hassen würde für das, was er meiner Mutter angetan hatte, und das tat ich auch. Ich tue es immer noch. Aber er tat mir auch leid. Er wollte eine Frau. Und keine halbwegs vernünftige Frau wäre freiwillig zu ihm in seine Hütte auf der Anhöhe gezogen. Wenn man die Situation aus seiner Perspektive betrachtet – was hätte er denn sonst tun sollen? Er war psychisch krank, schwer geschädigt, so durchdrungen von seiner Rolle des wilden Naturmenschen mit Indianerblut, dass er der Versuchung, meine Mutter zu sich zu holen, gar nicht hätte widerstehen können, selbst wenn er es gewollt hätte.

Mit der Landschaft wird als Pfund gewuchert, nahezu unberührt scheinende Weiten, größere Sumpf- und Moorgebiete, Flüsse, Wälder, Bächer; ein Leben umrahmt von der Natur und eingebunden in ihr, in Schönheit, Undurchdringlichkeit und Bedrohung, im Abseits einer Sicherheit. Mehreren Bilderfolgen zu Beginn, die täuschen oder täuschen können, die Erwartungen offenbaren und widersprechen, die Prophezeiungen oder Vorwegnahmen machen und Hintergründe andeuten, aber noch nicht erklären. Eine Vorgeschichte und eine Nachgeschichte, eine Betonung des Besonderen, eine akzentuierte Gesprächsführung, eine Veränderung in der Beziehung zueinander, zwischen Vater und Tochter, in der Familie allgemein, in der Auffassung zueinander, erst geht man zusammen auf Jagd, später verfolgt man sich selber:

Helena Pelletier [ Daisy Ridley] hat ihre Kindheit zusammen mit ihrer Mutter Beth [ Caren Pistorius ] und ihrem Vater Jacob Holbrook [ Ben Mendelsohn, eingangs mit Perücke mit falschem Bart verunstaltet ] im Moorland der Upper Peninsula in Michigan verbracht; ohne bis zum Auftauchen des Polizisten Clark Bekkum [ Gil Birmingham ] zu wissen, dass ihre Mutter gegen ihren Willen entführt wurde und sie das Kind einer Vergewaltigung ist. Mittlerweile ein eigenes Leben mit ihrem Ehemann Stephan [ Garrett Hedlund ] und der gemeinsamen Tochter Marigold [ Joey Carson ] führend, erfährt Helena eines Tages, dass ihr seitdem inhaftierte Vater bei einem Gefangenentransport geflüchtet ist und dabei auch zwei Wachen getötet hat. Der Terror, den sie hinter sich geglaubt hat, fängt von vorne an.

Eine erste Unnatürlichkeit im Gesprochenen, von Gesagten selber und dem, was man sagt, eine Inkongruenz des Gezeigten zu dem Geschriebenen, eine Überstimulierung der Bilder, eine merkwürdig fremdelnde Herangehensweise an das eigene Geschehen; visuell mit der Umgebung wuchernd, aber nur erfüllt von einzelnen Eindrücken und nicht erfüllt von glaubhaftem Leben. Die Perspektive der späteren Frau noch als Kind wird hier gewählt, das wird später deutlich, das hilft nicht im derzeitigen Moment. "There's nothing more pure than the instinct to survive", die Aufnahmen sind allesamt instinktlos, eine Rückblende, die nicht interessiert, die eher abstößt (und den Zuschauer betrügt, ihn hinter das Licht führt), aber wichtig für das Verständnis der weiteren Ereignisse ist.

Die Psychiater sowohl der Verteidigung als auch der Staatsanwaltschaft waren sich sogar einig, was seine Diagnose betraf – dissoziale Persönlichkeitsstörung –, wenngleich die Verteidigung noch weitere mildernde Umstände ins Feld führte, etwa das Schädel-Hirn-Trauma als Folge der wiederholten Schläge auf den Kopf, die er als Junge hatte einstecken müssen. Aber ich war ein Kind. Ich liebte meinen Vater. Der Jacob Holbrook, den ich kannte, war klug, witzig, geduldig und gütig. Er sorgte für mich, er gab mir zu essen und kleidete mich, er brachte mir alles bei, was ich wissen musste, um im Moor nicht nur zu überleben, sondern gut zu leben. Im Übrigen sprechen wir hier von den Ereignissen, denen ich meine Existenz verdanke, da kann ich doch schlecht sagen, dass es mir leidtut, oder?

Die Bilder werden später voller und größer, ein Sheriffbüro, eine Kleinstadt, ein Zeitsprung, ein Ortswechsel, immer noch nicht Metropole, immer noch nicht in den belebten Provinzen links und rechts des Landes, eher in der Mitte des Landes weiterhin. Veränderungen wurden durchgemacht, sie wurden akzeptiert, man hat sich versucht anzupassen, im Film, dem Film gelingt das weniger. Vieles wirkt künstlich und steif, steril, seltsam unzulänglich, unzugänglich, immer nur als Fassade, im Guten wie im Schlechten, eine Art Bilderbuchleben, das projiziert werden soll, aber aus dem Stapel der Albtraumbücher, die Adaption des Romanes "Die Moortochter" von Karen Dionne, veröffentlicht mit größerem internationalen Erfolg 2017 ist. Ein doppelter (einfallslos gefilmter) Gefangenenausbruch bringt nach einer halben Stunde die Thrillerkomponente in das Stück, vorher ist Drama, Trauma und Verdrängung, hinterher ist es Drama, Trauma und Konfrontation damit. Dabei liegt es nicht unbedingt an Ridley in der Hauptrolle, dass die Übertragung von der Belletristik in ein anderes Medium (nicht nur finanziell, der Film wurde am Box Office kaum wahrgenommen, er ist gefloppt) scheitert, die Inszenierung ist höchstenfalls konventionell, aber ohne Einfühlungsvermögen. Das Porträt einer einst abhängigen, nun immer noch abhängigen, aber sich daraus befreienden Frau, welche ursprünglich für Alicia Vikander als Besetzung geplant war, ist noch mit das Beste, wenn auch aus vielerlei Klischee bis gar Peinlichkeiten, da psychologisch oft unfein gestrickt, die Dialoge und Verhaltensweisen sind simuliert und deutlich platziert, wie postiert, deplatziert, zuweilen statisch wie ein scheues Reh im Scheinwerferlicht, nur wenige Einstellungen glaubwürdig und 'ehrlich'.

Ich bin gerade rechtzeitig für die Sechs-Uhr-Nachrichten zurück. Zwei Stunden sind vergangen, seit mein Vater entkommen ist, und noch ist er nicht gesichtet worden, was mich nicht wirklich überrascht. Ich glaube ja immer noch nicht, dass er überhaupt in der Nähe des Wildreservats ist. Das Terrain dort macht eine Suche schwierig, aber aus dem gleichen Grund ist es auch schwierig für denjenigen, der auf der Flucht ist. Andererseits tut mein Vater nie irgendetwas ohne eine bestimmte Absicht. Es hat seinen Grund, warum er sich diesen Ort für seine Flucht ausgesucht hat. Ich muss nur herausfinden, welcher es ist.

Als Psychothriller versucht es ein wenig den Rückfall in die frühen Neunziger, als dergleichen Erzählungen in allerlei (besseren, nicht so einfältigen und einfallslosen) Varianten noch in die Kinos oder unterstützend den Videotheken oder auch den Kabelsendern liefen, Filme mit Jaclyn Smith, Mel Harris oder Victoria Principal, welche auch nicht vor Originalität oder Tempo sprühten, aber auch nicht so verkrampft darum bemühten; Wounded (1997) fällt einem als prägnantes Beispiel noch ein, oder jüngst Alone (2020). Ab der zweiten Hälfte des Filmes hier, vergleichsweise früher als im Buch – und auch in Abänderung einiger Details, der Ehemann hat einen anderen Beruf, man hat zwei Kinder statt einem etc .– setzt man einige Spannungszeichen mit Möglichem oder tatsächlichem Gesehen, mit einer Verteidigungs- und dann auch Angriffshaltung, mit dem Bau einer Art Schutzwall um das Haus, mit dem Geklingel einer Glocke, dem Geraschel im Gebüsch, dem hilfreichen Tipp des Ehemannes: "Maybe try calling the police instead of running around in the dark with a knife."; überhaupt helfen einige wenige Nebendarsteller, und der Fokus auf das längere und erdende Survivalfinale.

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