„Guys you knew it was true“
Was ist die Wahrheit? Diese Frage hat schon Philosophen in der Antike beschäftigt und bis heute gib es darauf unterschiedliche Antworten, je nach zugrundeliegender Theorie. Im Alltagsgebrauch wird der Begriff vor allem als Gegenpol zur Lüge verwendet und verstanden. Diese sehr pauschale und simplifizierende Definition kann allerdings zu sehr harschen bis unfairen Urteilen führen. Das deutsche Pop-Duo Milli Vanilli kann ein Lied davon singen, gewissermaßen habe sie das ja auch mit ihrem Superhit „Girl you know it´s true“. Vielleicht hätte sie besser „Guys you know it it´s true, oh, oh , oh, we love you“ gesungen, denn das wäre die volle Wahrheit gewesen, genutzt hätte es vermutlich aber auch nichts mehr. Schließlich sind die beiden Popstars in einer quasi öffentlichen Hinrichtung als Lügner entlarvt worden. Denn gesungen haben nicht sie, sondern andere, was wiederum ebenfalls zur Wahrheit gehört. Klingt kompliziert? Ist es auch, zumindest in der Rückschau. Und genau diese gibt es aktuell im Kino zu bestaunen, was als volle Empfehlung gemeint ist. Nicht weil man nun endlich die ganze Wahrheit erfährt, sondern weil diese in all ihre schillernden und weniger schillernden Facetten zerlegt wird, sodass man sie neu zusammensetzen kann.
Anno 1990 war niemand an einer solch komplexen Wahrheit interessiert. Die Disco-Band Milli Vanilli hatte praktisch über Nacht den Pop-Olymp erobert. Binnen zwei Jahren hievten sie ihr ersten Album und 4 Singles an die Spitze der globalen Charts. Vor allem räumten sie im wichtigsten Musikmarkt der Welt fulminant ab. So gelangen ihnen in den USA nicht nur 3 Nummer 1 Hits in Folge, sondern sie heimsten auch noch den enorm prestigeträchtigen Grammy Award für den besten Newcomer des Jahres ein. Um so gnadenloser war dann natürlich der Aufprall, als Produzent Frank Farian dem öffentlichen Druck nachgab und in einer Pressekonferenz eingestand, dass die beiden Milli Vanilli Mitglieder Rob Pilatus und Fab Morvan keine einzige Note selbst gesungen hatten. Wie schon bei seiner früheren Charts-Sensation Boney M hatte Farian lediglich attraktive Gesichter und talentierte Tänzer gesucht, um sein Musikprojekt optisch zu vermarkten. Allerdings hatte bei Boney M immerhin die Hälfte des Quartetts sowohl live wie auch im Studio gesungen, was zudem allgemein bekannt gewesen war. Im Fall von Milli Vanilli wurde die Enthüllung aber zu einem der größten Skandale in der Musikgeschichte, auch und vor allem weil sich die US-amerikanische Musikindustrie in ihrer Integrität und Reputation fast schon gedemütigt sah und dementsprechend erbarmungslos zurück schlug.
Diese Geschichte vom Aufstieg und Fall allseits geliebter Heldenfiguren, und nichts anderes sind globale Popstars, fasziniert die Massen seit mindestens Jahrhunderten und ist demnach natürlich auch ein maßgeschneiderter Kinostoff. Beinahe wäre es dieses Jahr zu einem Doppelschlag gekommen, zu einem Showdown konkurrierender Milli Vanilli Filme. Das ehemalige Mitglied Fab Morvan, sein Partner Rob PilatusPilatus war 1998 an einer Überdosis gestorben, hatte seine persönlichen Rechte an die US-Firma RatPac verkauft. Parallel dazu entwickelte der deutsche Regisseur Simon Verhoeven ("Männerherzen", "Nightlife") ein eigenes Milli Vanilli Projekt. 2021 zerschlug sich der US-Film, ein Glücksfall für Verhoeven, aber auch ein Glücksfall für das Publikum. Der für vermeintlich typisch deutsche Filmkomödien bekannte Regisseur zeigt in seinem Milli Vanilli-Biopic ein ungemein feines Gespür für die so unterschiedlichen Facetten der vermeintlich simplen Geschichte. Ihm gelangt dabei das Kunststück so unterschiedliche Themen wie Rausch und Schattenseiten plötzlichen Ruhms, Mechanismen und Strategien der Musikindustrie, Glücksgefühle und Enttäuschungen, fanatisches Fantum sowie Zeitkolorit und Zeitgeist nicht nur gleichberechtigt aufzugreifen, sondern fühlbar, erlebbar zu machen und zum locker besten Unterhaltungsfilm des Jahres zu verquicken.
Der filmische Kunstkniff einer vierten Wand ist vielleicht nicht der entscheidende, aber sicher ein wesentlicher Schlüssel zum Erfolg. Dass Verhoeven die beiden Protagonisten Robert Pilatus und Fabrice Morvan bereits sehr früh direkt mit dem Publikum kommunizieren lässt, mag zunächst irritieren, schafft aber sehr schnell persönliches Band zwischen Publikum und Figuren, was wiederum zu einem viel intensiveren Filmerlebnis führt. Gleichzeitig geht Verhoeven das zentrale Thema „Wahrheit“ offensiv an und gibt den seinerzeit von der Presse vernichteten Popstars quasi die Chance ihre eigene Sicht der Dinge zu erzählen. Dass er damit jenen eine Stimme gibt, die damals im doppelten Sinn keine hatten, ist eine der schönsten Gesten des Films und wäre mit einer lapidaren „Meta ist halt in“-Bemerkung völlig unzureichend abgetan.
Obgleich die Sympathien des Regisseurs und auch des Publikums sicher mehr auf Seiten der benutzten Pop-Stars liegen, wird weder Produzent Frank Farian dämonisiert, noch werden erstere glorifiziert oder gar zu Märtyrern erhoben. Dass der schnelle Ruhm oft auch ebenso schnell zu Kopf steigt und sich in Kauf-, Drogen- und Sex-Exzessen entlädt, wird ebensowenig ausgespart wie die Tatsache, dass Pilatus und Morvan den vertraglich fest geschriebenen „Betrug“ durchaus kannten und bis zum Eklat auch bewusst mitspielten. Frank Farian wiederum erscheint weniger als faustischer Dämon, sondern vielmehr als fanatischer Musikproduzent, der dem Erfolg seines Projekts alles unterordnet, was eben dann auch Trickserien auf Kosten Anderer mit einschließt. Schlussendlich bleibt am Ende mehr als zweifelhaft, ob die Originalstimmen als Frontmänner ebenso erfolgreich gewesen und ob die lediglich in der Münchner Disco-Szene bekannten Pilatus und Morvan ohne Farian zu Weltruhm gelangt wären.
Dass man mit allen drei Protagonisten mindestens mitfühlen kann, liegt nicht nur an Verhoevens Talent als Autor und Regisseur, auch beim Casting hatte er ein glückliches oder besser kompetentes Händchen. Tijan Nije (Pilatus) und Elan Ben Ali (Morvan) mögen aufgrund ihres Tanztalents sowie vor allem wegen ihrer Ähnlichkeit zu ihren Charakteren den Zuschlag bekommen haben, aber sie beherrschen auch die emotionale Klaviatur zwischen faszinierter Leichtgläubigkeit, rauschhaftem Größenwahn sowie zerstörerischem Selbsthass. Der größte Name im Cast ist aber natürlich Matthias Schweighöfer und auch er macht den Film besser. Sein zwischen musikalischem Genie, durchtriebenem Geschäftsmann und biederem Landei (den verblüfften Popstars in spe serviert er in seinem Bauernhaus bevorzugt selbst gemachte Kartoffelsuppe) angelegter Farian ist trotz überschaubarer Screentime das Herzstück des Films, in dem sämtliche verhandelten Aspekte der Musikindustrie im allgemeinen sowie der Milli Vanilli-Geschichte im speziellen kulminieren. Schweighöfers Farian ist sowohl cholerisches Arschloch, wie auch malochender Tüftler, kalt-nüchterner Strategen und gewieftes Schlitzohr. In Schweighöfers Darstellung spürt man auch Verhoevens Sympathie für den einstigen Superproduzenten, den er zwar keineswegs von aller Schuld frei spricht, aber eben auch nicht dämonisiert.
Überhaupt lässt der Film die Schuldfrage offen. Eine nicht nur erfreulich subtile Herangehensweise an einen der größten Skandale der Musikgeschichte, sondern auch eine überraschend kluge. Erfreulich und überraschend, weil „Girl you know it´s true“ viele Zutaten eines vermeintlich seichten Feelgood-Movies aufweist und auf die im deutschen Film so gern bemühte Psychologisierungs-Moralkeule verzichtet. Letztendlich hat niemand schuld, oder alle tragen eine Teilschuld. Für einen Unterhaltungsfilm mag das fast schon zu philosophisch klingen, aber E- und U-Musik müssen sich bekanntlich nicht ausschließen, was auch im Kino gilt.
Zumindest im Kino Simon Verhoevens. Die erwähnten ernsten Zwischentöne werden von einem Unterhaltungs Crescendo eingerahmt. Ein durchgängig hohes Tempo, eine auf den Punkt inszenierte Zeitreise in die Bundesrepublik und die MTV-dominierte TV-Landschaft der 1980er Jahre sowie ein prominenter Platz für Show und Musik Milli Vanillis sorgen für Schmiss und gute Laune ohne reißerisch zu sein. So schlachtet Verhoeven in seinem Herzensprojekt nicht einfach das Sensations-Potential der Geschichte aus, vielmehr wirft er einen wehmütigen und warmherzigen, aber auch einen interessierten und faszinierten Blick auf ein Geschäft, bei dem Freud und Leid auf beiden Seiten der Lieferkette enger zusammen hängen als gemeinhin angenommen. Das ist mal lustig, mal traurig, mal bissig, mal empathisch, aber nie langweilig oder bedrückend. Trotz des bekannten Endes geht man beschwingt aus dem Lichtspielhaus und wer wie der Autor dieser Zeilen noch die Vinyl-Single oder -Maxi von „Girl you know it´s true“ sein eigen nennt, wird das enorme Verlangen verspüren sie auf den Plattenteller zu legen. Dass die Jungs auf dem Cover nicht singen, wird dabei kein Hindernis sein. Und das ist die Wahrheit. Garantiert.