„Hier wird nichts ausgefahren, ist’n Tatort!“
Nach nur sechs (respektive fünf, wenn man Lindholms Solo-Exkurs abzieht) Fällen zerbricht das Göttinger „Tatort“-Team aus Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) und Anaïs Schmitz (Florence Kasumba) in diesem von Christine Hartmann und Stefan Dähnert geschriebenen und von Hartmann auch inszenierten Kriminal-/Sozialdrama. Es ist ihre bereits zehnte Regiearbeit für die öffentlich-rechtliche Krimireihe. „Geisterfahrt“ wurde bereits gegen Ende des Jahres 2022 gedreht und auf dem Filmfest Oldenburg am 16. September 2023 uraufgeführt. Die TV-Erstausstrahlung erfolgte erst am 11. Februar 2024.
„Bei Stress ham‘ die keine Möglichkeit, ‘ne Toilette aufzusuchen.“
Der rumänischstämmige DDP-Paketfahrer Ilie Balan (Adrian Djokic, „Wolfsland: Tote schlafen schlecht“) fährt mit seinem Lieferwagen in eine Menschenmenge, die Folge sind Tote und Verletzte – zu letzteren zählt auch er; schwerverletzt kommt er auf die Intensivstation des Krankenhauses, wo er im Koma um sein Leben kämpft. Kurz zuvor hatte er noch ein Paket an die Polizei ausgeliefert, wo er auch Kriminalhauptkommissarin Charlotte Lindholm begegnet war. Diese will nicht so recht an die insbesondere von ihrem Vorgesetzen, Kriminaldirektor Gerd Liebig (Luc Feit, „Erkan & Stefan“), vertretene These glauben, es habe sich um eine terroristisch motivierte Amokfahrt gehandelt. Zusammen mit ihrer Kollegin Anaïs Schmitz ermittelt sie bei DDP, wo sie auf ein Geflecht aus Sub- und Subsubunternehmen sowie prekäre Arbeitsbedingungen trifft. DDP-Subunternehmer Mischa Reichelt (Christoph Letkowski, „Feuchtgebiete“) scheint gegen Liebig, der Probleme mit seiner Ehefrau Tereza (Bibiana Beglau, „1000 Arten Regen zu beschreiben“) hat, mit irgendetwas in der Hand zu haben und zeigt sich bei den Ermittlungen wenig kooperativ; und das angespannte Verhältnis zwischen Lindholm und Schmitz wird auf eine weitere Zerreißprobe gestellt…
„Täter sind oft selbst Opfer.“
Wir sehen zunächst eine Übergabe vertraulicher Informationen von Reichelt an Liebig, ohne uns so recht etwas darunter vorstellen zu können. Daraus versucht diese „Tatort“-Episode jedoch Spannung und Rätselraten zu generieren, denn der eigentliche Fall ist weitestgehend klar. Dieser wird in einer 24 Stunden zurückliegenden Rückblende inszeniert: Liebig feierte seinen 60. Geburtstag im Kollegenkreis, eines seiner Geburtstagsgeschenke wurde mit leichter Verspätung vom abgehetzten DDP-Fahrer Balan zugestellt. Parallel wird skizziert, wie stressig es bei DDP zugeht. Auf der Feier sorgt das Göttingen-Lied der französischen Chanson-Sängerin Barbara für ein wenig Lokalkolorit. Balans Unfall ist dann unschwer erkennbar auf seine Überlastung zurückzuführen, der ausgesprochene Amokfahrt-Verdacht für die Zuschauerinnen und Zuschauer somit hinfällig.
„Alle Fahrer agieren komplett eigenverantwortlich!“
Wie im im Dezember des Vorjahrs ausgestrahlten „Tatort: Des anderen Last“ dreht sich die Handlung von nun an um die Schattenseiten der Paketlieferbranche. Ein gesellschaftlich und politisch relevantes Thema, das hier nun aber leider wenig originell erscheint, da die Ausstrahlung des artverwandten (und fast zeitgleich mit „Geisterfahrt“ gedrehten) Kölner „Tatorts“ erst kurz zurückliegt. In Göttingen jedoch verliert man diesen Fokus bald zunehmend aus den Augen, und zwar zugunsten persönlicher Verbindungen der Figuren, die sich nach und nach herauskristallisieren. Es stellt sich heraus, dass DDP-Subunternehmer Reichelt Polizeichef Liebig erpresst, weshalb dieser die Ermittlungen sabotiert. Womit genau, weiß man noch nicht, lässt sich jedoch umso besser erahnen, je mehr sich der Verdacht häuslicher Gewalt Liebigs gegen seine Frau Tereza erhärtet. Dies verlegt den Fall endgültig auf eine persönliche Ebene. Reichelt darf immerhin versuchen, die Verantwortung für die Missstände seiner Branche auf die Verbraucherinnen und Verbraucher abzuwälzen, bevor in einem dritten Handlungsstrang die horizontale Erzählung der Göttinger „Tatorte“ weiter- und auserzählt wird.
„Der Fisch stinkt immer vom Kopf!“
Gerichtsmediziner Nick Schmitz (Daniel Donskoy), Anaïs‘ Ehemann, liegt ein Stellenangebot aus Wien vor, mit dem er liebäugelt. Lindholm und er scheint so etwas wie Torschlusspanik zu befallen, anders ist das reichlich unmotiviert und vor allem unüberlegt wirkende, natürlich offscreen (und offenbar mit anbehaltener Unterwäsche) stattfindende Schäferstündchen der beiden miteinander nur schwer zu erklären. Zumindest versucht es die Handlung gar nicht erst. Mehr noch als zuvor regiert von nun an das Drama, das um den trauernden Vater (Attila Georg Borlan, „Die Ungewollten – Die Irrfahrt der St. Louis“) des DDP-Fahrers sogar noch erweitert wird. Die eigentlichen Ermittlungen fördern Aufputschmittel zutage, die in Balans Blut seltsamerweise gar nicht nachgewiesen wurden, doch die Nebenschauplätze dominieren mittlerweile den „Tatort“. Lindholm sucht ihre Psychologin auf und begibt sich auf eigene Faust in Ermittlungen gegen ihren Vorgesetzten. Ein gelungener dramaturgischer Kniff ist hierbei die Visualisierung ihrer Vermutungen und der Entgegnungen ihrer Psychologin, von der man zunächst nicht weiß, ob sie nicht auch die realen Ereignisse widerspiegelt – auch wenn man darüber nur kurz im Unklaren gelassen wird. Am Ende von „Geisterfahrt“ schlagen neben den Opfern aus Balans Unfallfahrt (die der Handlung keinerlei Aufmerksamkeit wert sind) zwei Tote und ein Selbstmordversuch zu Buche.
Und eben das Ende eines „Tatort“-Teams. Lindholm wird zurück nach Hannover gehen. Lindholm und Schmitz wurden für Freundinnen und Freunde des Dramas von vornherein als dysfunktionales Team angelegt, und wie wir jetzt wissen, ohne dass man sich im Laufe der Zeit so richtig zusammenraufen und zu „Buddys“ werden würde. Statt das dramatische Potential der Kriminalfälle auszuschöpfen, wird insbesondere in „Geisterfahrt“ eine über- und damit wenig glaubwürdig konstruierte Handlung fast schon nach Seifenoper-Manier aufgesetzt, die voller persönlicher Verwicklungen steckt, als handele sich bei der Universitätsstadt Göttingen um ein kleines Kaff, in dem jeder mit jedem klüngelt. Mit einer grundsätzlich interessanten Kommissarinnenfigur wie Anaïs Schmitz schien man in der „Tatort“-Redaktion wenig anfangen zu können, jedenfalls machte man nicht viel mehr aus ihr als die exotische, schroffe Schwarze mit der Glatze. So unnahbar, wie ihre Rolle auf andere Figuren wirken soll, blieb sie letztlich dann leider auch fürs Publikum. Nach Fällen wie dem Debüt „Das verschwundene Kind“ oder „National feminin“ ist all das ziemlich schade.
Die ungemütliche herbstliche Stimmung dieses Falls verführt weniger dazu, sich in Melancholie fallenzulassen, sondern eher, ihr möglichst bald wieder entkommen zu wollen. Nach rund eineinhalb Stunden hat man die Gelegenheit und darf gespannt sein, welches Unheil die eigenartige Kommissarin Lindholm als nächstes in Hannover anrichten wird. Oder man nutzt die Gelegenheit des Teambruchs, zukünftig einen „Tatort“-Ableger weniger im sonntäglichen Glotzplan vorzusehen…