„Nazi und dann auch noch geizig…“
In seinem dreizehnten „Tatort“ ermittelt der Wiesbadener LKA-Kriminalhauptkommissar Felix Murot (Ulrich Tukur) nicht selbst, denn der von Matthias X. Oberg, der zusammen mit Michael Proehl und Dirk Morgenstern auch das Drehbuch verfasste, inszenierte Fall spielt überwiegend in der dunkeldeutschen Vergangenheit des Jahres 1944. Nach dem „Tatort: Murot und das Gesetz des Karma“ handelt es sich um Obergs zweite Arbeit für die öffentlich-rechtliche Reihe. Der Geschichtskrimi wurde am 20. Oktober 2024 erstausgestrahlt.
„Hitler has only got one ball…”
Felix Murot und Magda Wächter (Barbara Philipp) erwarten am Frankfurter Flughafen die Ankunft eines Fliegers aus Argentinien, mit dem ein alter Kriegsverbrecher aus der Nazizeit endlich nach Deutschland ausgeliefert wird, damit ihm noch vor seinem Ableben der Prozess gemacht werden kann. Es handelt sich um Hagen von Strelow (Ludwig Simon, „Die Eifelpraxis“), der im Frühjahr 1944 zusammen mit dem Sonderermittler Oberst Rother (Ulrich Tukur) mit einem Motorschaden im Hessendorf liegenblieb und Zeuge wurde, wie ein britischer Pilot mit seinem Kampfflugzeug abstürzte. Während Rother bereits ein kriegsmüder älterer Mann war, war von Strelow als dessen junger Adjutant ein 120%iger Nazi, der ohne mit der Wimper zu zucken über Leichen ging. Man quartierte sich im dörflichen Gasthaus ein, wo die untergetauchte jüdische Ärztin Else Weiß (Barbara Philipp) als Bedienung arbeitete und Philosophieprofessor Bernhard Tabler (Cornelius Obonya, „Die Rache der Wanderhure“) sich die Zeit mit Schachspielen vertrieb. Während Rother und von Strelow auf die Reparatur ihres Autos warteten, bekamen sie es mit einem neuen Fall zu tun: Vier tote deutsche Soldaten in einem nahegelegenen Waldstück, ein angeketteter und verletzter Häftling, den die vier transportierten, und schließlich der britische Soldat, der sich als Spion für die Deutschen entpuppte und bald tot in der Dorfkapelle aufgefunden wurde – ermordet. Er soll höchst brisante strategische Dokumente dabeigehabt haben, doch wo sind sie hin? Und wer hat warum den Briten erschossen? Und wie genau sind die vier Soldaten ums Leben gekommen? Rother versuchte, sich einen Reim auf die Ereignisse zu machen, während von Strelow ihm im Nacken saß und seine Vorgehensweise immer weniger gutheißen konnte…
„Wenn man dem Reich dienen will, dann gibt es immer eine Möglichkeit!“
Die 1944 spielende Handlung ist der eigentliche Fall, eingebettet in eine marginale Rahmenhandlung, an die der Schnitt immer mal wieder kurz erinnert. Dass Rother ebenfalls von Tukur und Weiß ebenfalls von Philipp gespielt werden, verleiht dem Ganzen eine leicht surreale Note, die am Ende in der Gegenwart noch einmal kurz aufgegriffen wird. Dennoch ist „Murot und das 1000-jährige Reich“ – insbesondere verglichen mit manch anderem Wiesbadener „Tatort“ – kein wirklich surrealistischer oder sonderlich experimenteller Fall, sondern narrativ bodenständig und stets nachvollziehbar, tendiert dabei aber ein wenig in Richtung Alternate History. Er ist durchaus spannend erzählt, vor allem, wenn nach gut 20 Minuten die ersten Leichen gefunden werden. Der eigentliche Fokus jedoch liegt auf der Dynamik zwischen den einzelnen Figuren, was umso interessanter wird, je mehr man sie kennenlernt und zusammen mit Rother rätselt, wer so ist, wie er oder sie sich gibt, und wer nur so tut als ob – während man als Zuschauerin oder Zuschauer nicht zuletzt auch über Rother rätseln darf, dessen Vergangenheit einem verborgen bleibt; dafür lernt man gefühlt das ganze Dorf kennen: Neben den bereits genannten den Schmied Lobus (André Meyer, „Der Wixxer“) und dessen Frau (Melanie Straub, „Systemsprenger“) sowie die gemeinsame kleine Tochter Waltraud (Viola Hinz, „Sexuell verfügbar“), Gastwirtin Clara Breuninger (Imogen Kogge, „Phoenix“), den Postbeamten Karl (Gerd Lohmeyer, „Der Schuh des Manitu“), den Dorfdeppen sowie die Männer, die Rother und von Strelow begleiten, und den gefangengenommenen Soldaten.
Am unangenehmsten ist von Strelow, Typen wie ihm möchte man am liebsten 24/7 in die Fresse schlagen. Aber auch andere Figuren bekleckern sich nicht gerade mit Ruhm, zeigen verschiedene Facetten menschlicher Schwächen und Fehler, die nur allzu gut mit Faschismus korrelieren. So hübsch das frühlingshafte Hessendorf auch anzusehen ist, es herrscht eine unbehagliche Atmosphäre gegenseitiger Verdächtigungen und damit verbundenen Machtmissbrauchs und Ängsten. Und die Zahl der Leichen steigt, u.a. verursacht durch einen für 20:15 Uhr sehr explizit dargestellten Kopfschuss. Das Dorf bildet zwar keinen vollumfänglichen Mikrokosmos Deutschlands zu NS-Zeiten, deckt aber doch einiges ab. In Form verschiedener Visualisierungen unterschiedlicher Versionen der Geschichte um die vier erschossenen Soldaten spielt man genüsslich mit dem Stilmittel des unzuverlässigen Erzählers. Humorig geht es während einer Gesangseinlage Rothers zu, der im Gasthaus „Hitler has only got one ball“ schmettert.
Kritisieren kann man, dass sich „Murot und das 1000-jährige Reich“ auf die gefährliche „Guter Nazi, schlechter Nazi“-Gratwanderung einlässt. Das surrealistisch aufgeladene Ende lässt dann aber keinen Zweifel daran, dass dieser „Tatort“ ein Plädoyer für die Strafverfolgung auch greiser und gebrechlicher Nazis und Kriegsverbrecher ist – und zwar ein ebenso unterhaltsames wie beeindruckendes.