Review
von Alex Kiensch
In einem französischen Städtchen wird ein Mädchen gefunden - vergewaltigt und ermordet. Der Verdacht der Polizei fällt unter anderem auf den Zeichenlehrer der Kleinen, den Maler René (Jacques Gamblin). Obwohl der seine Unschuld beteuert, schlägt ihm schnell die Ablehnung der Gemeinschaft entgegen - dabei kommen bei den Ermittlungen noch so einige Lügen und Verbrechen der Einwohner ans Licht.
Bei einem Chabrol-Film weiß der treue Zuschauer, was ihn erwarten kann: eine böse Psycho- und Gesellschaftsstudie, die in aller Ruhe moralische Missstände der sogenannten besseren Gesellschaft aufdeckt. Mit der Ruhe aber übertreibt es der Meister in diesem Alterswerk ein wenig: „Die Farbe der Lüge" kommt in gemächlichen Bildern daher, verfolgt einige Protagonisten in unaufgeregten Parallelmontagen und lässt sich sehr lange Zeit, bis die moralischen Fassaden bröckeln. Die Ereignislosigkeit macht es dem Zuschauer hier ein wenig schwer, das Interesse durchgehend wachzuhalten, was vielleicht auch an der doch ein wenig zu glatten Figur des Malers liegt. Psychische Störungen, eruptives Verhalten und Eifersucht hin oder her, von den sonst so intensiven Hauptfiguren eines Claude Chabrol trennt ihn diesmal seine charakterliche Ausgeglichenheit - selbst in Anbetracht der finalen Eskalation bleibt er ein zu abgerundeter, sympathischer Charakter. Die bösen Überraschungen kommen hier zwar sehr bewusst bei einigen anderen Figuren hervor, doch das kann die Spannung einer Psycho-Studie, wie sie sonst so typisch für den französischen Altmeister ist, nicht vollständig auffangen.
Dennoch kann auch „Die Farbe der Lüge" frankophile Filmfans leidlich unterhalten. Weniger als Krimi, denn die Ermittlungen der Polizei finden hier allerhöchstens am Rand statt, als viel mehr als psychologisches Drama, das die Einwohner einer typischen Kleinstadt mit Fingerspitzengefühl, leisem Humor und Glaubwürdigkeit porträtiert. Ein ruhiger, schöner Soundtrack, langsam ausgebreitete Bildkompositionen und eine gute Darstellerriege verleihen dem Charakterstück über weite Strecken hinweg die nötige Intensität. Chabrols formale Reife ist dabei angenehm zu beobachten, auch wenn wie gesagt ein wenig mehr Tempo nicht unbedingt verkehrt gewesen wäre. Aber das Spiel mit dem Setting und dessen Eigenschaften - wie etwa die großartige Szene einer nächtlichen Bootsfahrt über das nebelverhangene Meer beweist - erzeugt auch hier immer wieder spannende und sehenswerte Bildkollagen. Zusammen mit einigen klugen Betrachtungen über Kunst, Künstler und Medien entwickelt der dialoglastige Film so eine interessante Reflexion über die Charaktereigenschaften und Lebenslügen der Hauptfiguren.
Auch wenn „Die Farbe der Lüge" nicht an Chabrols große Werke heranreicht (man denke etwa an „Schritte ohne Spur", „Der zehnte Tag" oder „Biester"), spürt man hier doch noch deutlich die Handschrift des jahrzehntelang aktiven Regisseurs. Mit schönen Bildern, guten Darstellern und einer spannenden Story mit immerhin starker Auflösung vermag er dem einen oder anderen Cineasten sicher noch ein nettes Stück Unterhaltung zu verschaffen. Für Fans also durchaus empfehlenswert.