Bram Stokers "Dracula" wurde im Laufe der Filmgeschichte so oft verfilmt und variiert wie kaum ein anderes Werk der Literaturgeschichte. Und bei den relativ getreuen Umsetzungen - von Murnaus "Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens" (1921) über Brownings "Dracula" (1931) und Francos "El Conde Drácula" (1969) bishin zu Coppolas "Bram Stoker's Dracula" (1992) - blieb der einzige [und insgesamt nicht allzu tragische] Makel des Romans erhalten: Auf einen starken, schnell anlaufenden, haarsträubenden Auftakt folgt recht bald wieder ein Abfallen, nach dem die grandiose Qualität des zuvor berichteten nicht wieder erreicht wird.
Guy Maddin hat es nun geschafft mit diesem Mangel spielerisch zu arbeiten, ohne die Vorlage inhaltlich groß zu verändern - und doch wird diese Neuinterpretation den wenigsten Zuschauern schmecken: Der starke Anfang wird hier zur späten Rückblende, das ganze Grusel- und Suspense-Material des ursprünglichen Beginns wird eingetauscht gegen einen geradezu unerhört frechen Scherz, der mit den Erwartungshaltungen des Zuschauers spielt [was nach über 80 Jahren Dracula im Kino auch ohne größere Probleme möglich ist], der Horror-Stoff mutiert weitestgehend zur hochästhetisch gefilmten Satire und Parodie zugleich und ein qualitativer Bruch kommt gar nicht erst zustande.
Dass es Maddin auch kaum möglich geblieben ist, bei einem echten Gruselfilm zu bleiben liegt in der Entstehungsgeschichte des Werkes: "Dracula - Pages from a Virgin's Diary" ist schließlich die für den Sender CBC entstandene Abfilmung der Ballettversion des Stoffes von Mark Godden und dem Royal Winnipeg Ballet. Nun macht der Verzicht auf Dialoge und die schier ungeheure Menge an Tanzszenen natürlich viele Möglichkeiten des Horrorfilms im Vorfilm zunichte und so verwundert es auch nicht, dass sich der recht extravagante Film eher wie ein publikumsfreundlicher Experimentalfilm sehen lässt.
Experimentalfilm - und nicht etwas Ballettfilm - deshalb, weil man sich mit Maddin den richtigen falschen Mann geholt hat: den falschen, weil Maddin mit seinem Hang zur Ästhetik des expressionistischen deutschen und des montage-technisch fortschrittlichen russischen Stummfilms und seiner Abneigung gegenüber Tanzfilmen ["The One I like the most is Michael Powell's [i]The Tales of Hoffmann[/i], though I still can't watch more than 20 or 30 minutes of it at a time."] kaum der Mann für eine schlichte Bühnenabfilmung war, den richtigen, weil man hiermit einen sehr versierten Regisseur an Bord hatte, der die Ballett-Vorgaben mit rein filmischen Mittel gehörig aufpolieren konnte.
Die filmischen Mittel sind hier peinlich genau viragierte Bilder in diesem kontrastreichen s/w-Film, knappe aber treffende Zwischentitel, geölte Kamera-Linsen wie man sie von D. W. Griffith's "Broken Blossoms" (1919) kennt, die harten Schnitte eines Eisensteins und [ungeniert einfach und rauh gestaltete] Split-Screen- und Doppelbelichtungseffekte. Hinzu kommt ein sorgfältig gestaltetes Set, das Maddin zum Teil an den Bauten von Hans Poelzig und Kurt Richter für Wegeners "Der Golem, wie er in die Welt kam" orientiert. Von direkten Querverweisen auf Murnaus "Nosferatu" oder Dreyers "Vampyr" (1930) mal ganz abgesehen.
Und auch - das wurde bereits erwähnt - erzähltechnisch läuft das ganze recht eigensinnig ab; und zwar nicht bloß im Vergleich mit dem Roman und anderen Verfilmungen [hier kann wohl allenfalls Portabellas "Vampir Cuadecuc" (1970) das Wasser reichen], sondern auch im Vergleich zur Ballett-Version, die hier von 110 Minuten auf nicht mal 75 Minuten runtergeschraubt wird.
Der Film beginnt mit Draculas Anreise per Schiff, desen gesamte Besatzung einen grausigen Tod sterben muss, während im Sanatorium Renfield den Meister erwartet und Lucy bereits jetzt schon in wonnige Verzückung gerät und noch vor der fünften Filmminute vom sehr charismatischen Dracula [mit dem Asiaten Zhang Wei-Qiang ungewohnt, aber dennoch brilliant besetzt] gebissen wird. Parallel zur Anreise sehen wir eine Landkarte, auf der satte Blutströme von Ost nach West rinnen, ein Zwischentitel verkündet panisch "IMMIGRANTS!" und damit wird bereits ein Interpretationsansatz eingeführt, der den Film bis zum Ende begleitet, ohne jedoch allzu aufdringlich zu werden: es geht Maddin hier um den kultivierten Briten, in dessen geordnete Welt der osteuropäische Ausländer hereinbricht und Arbeit, Geld und Frauen gleichermaßen zu gefährden scheint. [Die klassische Interpretation seit Brownings "Dracula".] Während die Furcht vor dem vermeintlich geldgierigen Eindringling von Maddin noch als alberner Seitenhieb auf aktuelle Vorurteile kurz und knapp gehalten wird, nimmt die vermeintliche Gefährdung der Frauen hier breiteren Spielraum ein, denn zusätzlich wird auch die bei Stoker dämonisierte weibliche Sexualität klar herausgearbeitet, die die Helden immer wieder irritiert - sei es durch die Schlafwandel- und Fiebertraumsequenzen oder durch Draculas Schloß in der Rückblende, dessen Tunnel durchaus an weibliche Geschlechtsteile erinnern. Maddin parodiert also die bei Stoker subtil geschilderten sexuellen Aspekte und nutzt den Stoff gleichzeitig noch, um auf ausländerfeindlichen Klischees herumzuhacken - wobei er es manchmal auch etwas übertreibt, denn wenn Van Helsing mit seinem Gefolge Renfield böse misshandelt und Maddin die Helden so als sadistische, sich ständig bedroht glaubende Irre entlarvt, dann ist die Verteilung der Sympathie doch deutlich zu parteiisch geraten, aber solch einen Holzhammer-Humor trifft man dann glücklicherweise nur vereinzelt an.
Nach Lucys Vampirisierung und anschließender Pfählung läuft der Film zu Minas Gefährdung über und gönnt sich dabei eine Rückblende, die die Abenteuer ihres verlobten Jonathan Harkers präsentiert. In irrsinnigen 60 Sekunden wird von der Reise zum Grafen, dem gemeinsamen Mahl mit diesem, der Begegnung mit den Vampirinnen und dem rettenden Sprung aus dem Fenster erzählt [unterlegt mir pointierten Zwischentiteln wie "Infants for supper?"] und die völlig unterlaufene Erwartungshaltung wird mit der daraus resultierenden Komik durchaus ausgeglichen.
Am Ende kommt es schließlich zu Draculas Vernichtung in seinem Anwesen - teilweise ins Absurde abgewandelt, vom Ablauf her aber noch recht nah an Stokers Vorlage.
All dies wird zudem in beeindruckenden Kamerafahrten eingefangen und von der Musik Gustav Mahlers unterlegt. Im Endeffekt ein ästhetisch hochspannendes Gemisch aus diversen Kniffen und Tricks der frühen Filmgeschichte [auch wenn die Bilder ihr Entstehungsjahr nie ganz verleugnen kann], angereichert mit etlichen Zitaten und Anspielungen, in der altbekannten Geschichte derart frisch zusammengesetzt, dass Dracula-Neulinge wohl auf gravierende Verständnisschwierigkeiten stoßen werden und angereichert mit einem Interpretationsansatz, der sicherlich zulässig ist, phasenweise jedoch etwas arg überspannt wird, aber einfach nicht genug Raum einnimmt, als dass diese Überreizungen sich ernsthaft negativ niederschlagen könnten. Damit ist der Film inhaltlich wie formal traditionell und neuartig zugleich, was ihm auch noch einen gewissen Charme zukommen lässt, der immerhin ein so großes Publikum erreichen konnte, dass er von Kanadas Bildschirmen bishin in die Kinos der USA gelangen konnte.
8/10