Von all den vielen Filmen aus Godards Spätwerk ab „Rette sich wer kann (das Leben)" (1980) ragen zwei Filme besonders heraus: einmal der grandiose „Detektive" (1985), der den späten Godard nochmal von einer ungeahnt heiteren und spaßigen Seite zeigt und seine Vorliebe für amerikanische Kriminalfilme deutlich hervorhebt, wie es seit den 60er Jahren bei Godard nicht mehr der Fall war (der Film ist Clint Eastwood, Edgar G. Ulmer und John Cassavetes gewidmet) und „Notre Musique", der Godards Reflexion über Kunst und Realität auf die Spitze treibt.
Der Film teilt sich in drei Kreise: Hölle, Fegefeuer und Paradies. Unter „Hölle" sammelt Godard überarbeitete Szenen aus Spielfilmen und Dokumentaraufnahmen, die sich mit kriegerischen Auseinandersetzungen befassen ohne zeitlich oder räumlich aufeinander abgestimmt zu sein - Eisenstein steht neben General Custer, Vietnam neben einem kitschigem Historienschinken, die Balkankrise neben römischen Legionären, Napoleon neben Piratenfilmen, Holocaust neben „Kiss Me Deadly". Sehr bald wird Godard das eigentliche Thema von „Notre Musique" ansprechen: Das Problem der Darstellung von Realität, immer jedoch am Beispiel von Krieg und Revolution. Im zweiten Kreis „Fegefeuer" reist Godard als er selbst nach Sarajevo - seit Godards „Je vous salue, sarajevo" scheint offensichtlich, dass er sich nach Vietnam ein neues Gebiet gesucht hat - um an einem fingierten Kolloquium über das Bild und den Text teilzunehmen, auf welchem er somit eines seiner immer wieder durchgespielten Themen neu zubereiten kann - am Beispiel von Hollywood-Klassikern ebenso wie an der Auslegung von Geschichte. Und dabei ist Beziehung von Text und Bild zur Realität eines der wichtigsten Elemente. Godard begegnet im Verlauf des Films dem Schriftsteller und Filmkritiker Juan Goytisolo, den Poeten Mahmoud Darwish und den Philosophen Jean-Paul Curnier, die allesamt an dem Diskurs teilnehmen und ihn von Homers Epen an aufrollen. Godard begnet weiterhin seinem Dolmetscher und dessen Nichte Olga, eine Studentin die ihm bei seiner Abreise eine gebrannte DVD zustecken wird, und die Journalistin Judith Lerner. Gemeinsam verweilt man auf Flughafen, französischer Botschaft, Bibliotheken und dem Kolloquium selbst und Godard zeigt in diesen Szenen einen beispiellosen Idealfall von interkulturellem Literaturbetrieb, der in seiner Vielfalt (der Film läuft im Original auch größtenteils als französisch untertitelter, zig Sprachen übergreifender Austausch ab) ungeheuer beeindruckend ist. Vor allem gibt einem der Film nicht den widerlichenm nachgeschmack, Godard wolle hier mit seinen beeindruckenden Kenntnissen prahlen, sondern hier findet ein Treffen internationaler Intellektueller statt in dem ein freundschaftlicher Tonfall liegt, der jede Form von selbstgefälliger Überheblichkeit oder zwanghafter Hochgestochenheit entbehrt.
Groteskere Töne schlägt Godard nebenbei an, wenn er das Phänomen der Kolonialisierung aufgreift und kurzerhand hollywoodtypische Indianer auftauchen lässt. Ansonsten verzichtet Godard auf solch surreal-groteske Ausbrüche und inszeniert seinen zweiten Kreis ungewohnt zurückhaltend, sehr sachlich in durch und durch schönen Bildern und erfüllt von einer ssanft melancholischen Grundstimmung.
Im letzten Kreis „Paradies" erlaubt Godard einen Ausblick in das Paradies, das allerdings von amerikanischen Gis bewacht wird. In ihm spielen sich Szenen einer Flower Power ideologie ab, die Godard seit mehr als 3 Jahrzehnten nicht mehr aufgegriffen hat... Das Paradies umfasst aber auch noch mehr, in diesen Kreis fällt noch Godards 3 Wochen nach dem Kolloquium stattfindender Ausflug in seinen mit Blumen überhäuften Garten statt. Dort erhält er schließlich noch einen letzten Anruf von dem Dolmetscher aus Sarajevo, der ihm vom Tod Olgas berichtet. Diese wurde erschossen als sie in einem Kino als Selbstmordattentäterin auftauchte, das Publikum den Raum verlassen ließ und sich äußerte, sie wäre glücklich wenn ein einziger Israeli mit ihr für den Frieden sterben würde; die vermeintliche Sprengladung war jedoch nur ein mit Büchern angefüllter Rucksack, der angekündigte Tod wäre schließlich doch nur eine Annäherung gewesen... Dennoch scheint ihr Tod nicht nur ein verunglücktes, fragwürdiges Happening zu sein, als vielmehr ein indirekter Suizid einer - der Film ließ sowas mehrfach erahnen - lebensüberdrüssigen, vom Leben (wie es ist) enttäuschten Verzweifelten.
Insgesamt ein auf Bild- und Tonspur gleichermaßen poesievoller Film, ernsthaft, voller interessanter Überlegungen, der ein interkulturelles Zusammenleben fordert (freilich ohne auf eigene Nationalität verzichten zu müssen) und dabei - indirekt und ganz nebenbei - die Geisteswissenschaften und den Kulturbetrieb als maßgeblich daran beteiligt zeigt.
9/10