Eins vorweg: Ich halte Walerian Borowczyk für einen der grandiosesten europäischen Regisseure aller Zeiten, dessen Oeuvre tragisch unterschätzt wird und in Vergessenheit geraten ist, obwohl seine Filme weit mehr zu bieten haben als oberflächliche Erotika oder die paar „Skandalszenen“, auf die sie gerne reduziert werden.
BLANCHE, seinem zweiten Spielfilm, könnte jedoch eigentlich nicht mal der engstirnigste Kritiker einen solchen Vorwurf machen. Sex ist hier keiner zu sehen und auch mit nackten Körpern geht Borowczyk noch sparsam um. Nur eine einzige kurze Nacktszene von Ligia Branice, seiner damaligen Muse und Darstellerin der Titelrolle, führt den Zuschauer gleich zu Beginn auf eine falsche Fährte, denn im Folgenden wird eine tragische Liebesgeschichte erzählt, in der der Erotik so gut wie kein Platz eingeräumt wird: Im Hochmittelalter reist ein König mit seinem Gefolge aus Mönchen und einem Page zum Schloss eines alten Grafen und dessen junger, blühender Gattin Blanche, in die sich sowohl der König als auch der Page sogleich verliebt, doch nicht nur das: auch der Sohn des Grafen aus erster Ehe, gerade von einem Kreuzzug zurück, liebt seine Stiefmutter inniger als erlaubt. Blanche erwidert die Liebe des jungen Mannes, verschließt sich jedoch ihm und ihren beiden anderen Verehrern, von denen sie vor allem der König mit Inbrunst bedrängt, ihn doch in ihr Bett zu lassen, wegen des Eheversprechens, das sie dem alten Grafen gab, und das sie höher schätzt als ihre eigenen Bedürfnisse, obwohl dieser seiner Frau, von krankhafter Eifersucht dirigiert, kein angenehmes Leben beschert, und auch sonst einen eher unansehnlichen Eindruck macht. Man ahnt es schon: alles steuert auf eine Katastrophe zu und Blanche, die unschuldigste der Figuren, verstrickt sich ohne eigenes Zutun in ein Drama, das blutig endet und in seiner ausgefeilten Komposition wohl das beste Shakespare-Stück ist, das nicht von Shakespare selbst geschrieben wurde (in Wahrheit beruht Borowczyks Drehbuch auf einem epischen Gedicht von Juliusz Slowacki, einem polnischen Dichter der Romantik). Neben der Geschichte, die bei aller Konstruktionskunst überhaupt nicht konstruiert wirkt, sind es wie üblich die prachtvollen Bilder, die den Film auch zu einem optischen Vergnügen machen. Borowczyk inszeniert das Schloss des Grafen, in dem sich fast alle entscheidenden Storyentwicklungen vollziehen, wie eine Theaterbühne: die Kameralinse rückt nahe an die Schauspieler heran, vermieden werden großflächige Ansichten der Räume oder hektische Kamerabewegungen. Ja, die Optik von BLANCHE ist einzigartig und hat etwas von überdimensionalen Gemälden, aufgeblasen, um monumental zu werden. Zu erwähnen wäre noch der Soundtrack ohne Makel (inklusive Kastratengesang) und einige subtil amüsante Einlagen, für die meist das spezielle Haustier des Königs, ein kleines, gewandtes Äffchen, zuständig ist.
BLANCHE ist ein Borowczyk ohne Szenen, die das sittliche Empfinden des einen oder andern verletzen könnten, dafür mit einer Story, die an Komplexität alle übertrifft, die er später verfilmte, jedoch auch mit etwas weniger Poesie als man sonst von ihm gewohnt ist. Vielleicht der erste Versuch für Leute, die sich noch nicht für ejakulierende Bestien oder mit Gurken oder Kaninchen masturbierende Mädchen bereit fühlen, in die künstlerische Welt des Polen vorzudringen.