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Robert Louis Stevensons Schauergeschichte „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde" dürfte nach Dracula und Frankenstein die berühmteste und am häufigsten verfilmte Gruselgestalt der Horrorliteratur zu bieten haben: den Wissenschaftler Dr. Jekyll, dessen Experimente zur Trennung der guten und schlechten Eigenschaften des Menschen zum Entstehen des monströsen Mr. Hyde führen, als der er immer scheußlichere Verbrechen begeht - und der allmählich Gewalt über ihn selbst gewinnt.

Eine der frühesten (und trotzdem noch nicht die erste) Verfilmungen ist ein Stummfilm von 1920 mit dem damaligen Hollywoodstar John Barrymore, der den so genialen wie gefährlichen Wissenschaftler und dessen dunkles Alter Ego spielt. Als Beitrag zur Glanzzeit des Horror-Genres zu Stummfilmzeiten überzeugt er mit einer aufwendigen Ausstattung und gelungenen Gruselbildern, die die Atmosphäre der gotischen Vorlage hervorragend einfangen.

Da der Film noch aus einer Zeit stammt, in der Kameras unbewegliche Klötze waren, geht dieser Filmversion natürlich die Dynamik späterer Umsetzungen ein wenig ab. Trotzdem gelingen dem Film immer wieder beeindruckende Szenenfolgen und eine starke Atmosphäre. Dank des tollen Settings - dunkle Straßen und Gassen, verwinkelte Zimmer, deren Ausstattung altmodisch-prunkvoll daherkommt, teils schwache Beleuchtung - und originell inszenierter Zwischentitel, die teils mit Totenköpfen, Kerzen und Büchern bemalt sind und so die unheimliche Schaueratmosphäre enorm verstärken, erreicht „Dr. Jekyll und Mr. Hyde" innerhalb kürzester Zeit ein intensives Grusel-Feeling, das durchgehend anhält und mit sich steigernder Eskalation der Handlung sogar noch gekonnt zunimmt. Enorm hilfreich ist dabei der dunkle, getragene, unheimliche Score, von dem ich leider nicht sagen kann, ob es die Originalkomposition ist, der aber so oder so einen erheblichen Anteil an der düsteren Intensität des Films hat.

Auch Darsteller und Make-up tragen ihren Teil dazu bei. Barrymore spielt die zwei gegensätzlichen Figuren mit großer Leidenschaft und Überzeugungskraft (auch wenn man hier wie üblich im Stummfilm bei allen Darstellenden das theaterhafte Übertreiben von Mimik und Gestik ein wenig ignorieren sollte) und verleiht dem zentralen Charakter genug Tragik, um sein Schicksal spannend und mitreißend werden zu lassen, selbst wenn man die Geschichte schon zur Genüge kennt. Und das mitunter klischeehafte und simple, aber doch sehr effektive Make-up, mit dem Mr. Hyde als menschliches Monstrum inszeniert wird - lange, verfilzte Haare, klauenartige, dreckige Hände, schmutzige Kleidung, ein verformtes Gesicht und eine beunruhigende Kopfform - lässt nicht nur seine Co-Darstellenden vor Schreck das Gesicht verziehen.

Ein echtes Highlight vor allem für Kino-Nostalgiker sind aber die Spezialeffekte. Die Verwandlungen Jekylls in Hyde werden mittels simpler Überblendungstechnik dargestellt - Tricks aus der Anfangszeit des Mediums selbst, die doch visuell immer wieder funktionieren. So ist vor allem eine originelle Sequenz, in der das personifizierte Böse in Form eines in einem Käferkostüm steckenden Darstellers als Doppelbelichtung auf den schlafenden Jekyll kriecht und in ihm versinkt, so grandios wie überraschend. Und die Verwandlungen sind so effektiv inszeniert, dass man den Schrecken derjenigen Figuren, die diesen Vorgang beobachten, voll und ganz nachvollziehen kann.

Auch wenn man „Dr. Jekyll und Mr. Hyde" einige typische Schwächen der Stummfilmzeit nachsehen sollte (neben technisch bedingten auch eine recht simple Moral, obwohl die metaphorische Ebene, die vom Austarieren zwischen guten und bösen Seiten des Menschen spricht, vor allem in der tragischen Ausgangslage des Wissenschaftlers ganz gut getroffen wird), kann man in dieser Verfilmung einen frühen, nicht überwältigenden, aber durchaus packenden Beitrag zum Stummfilm-Horrorkino der 20er-Jahre entdecken, das später von deutschen Beiträgen wie „Das Cabinet des Dr. Caligari" oder „Nosferatu" in glänzende Höhen getrieben wurde. Für Genre-Fans und Nostalgiker auf jeden Fall eine kleine geheime Perle.

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