Man könnte sagen, jedes Biopic aus Hollywood sähe gleich aus. Egal ob Leistungssportler, Starpolitiker oder – wie hier der Fall – Sexualwissenschaftler, das filmische Resultat ist ein am Reißbrett Syd Fields kalkuliertes Schema-F-Werk, das droht in seiner eigenen Mittelmäßigkeit zu ersaufen. Bei Bill Condons "Kinsey – Die Wahrheit über Sex" ist es allerdings noch schlimmer. Nicht nur mittelmäßig, sondern furchtbar. Nicht nur belanglos, sondern ärgerlich.
Condons Film basiert auf Alfred Kinsey, der Amerika in den 50er Jahren mit sexualwissenschaftlichen Publikationen aufklärte, die Prüderie ihrer schlimmsten Lügen überführte und der Nation zeigte, das etwaige Perversionen wie Oralsex, Masturbation oder Homosexualität normal seien, weil sie in jedem warmen Zuhause passieren. Und weil das jeder macht, ist es normal. Jegliches Reflektieren jenseits somatischer Vorgänge, kennt der studierte Biologie und Entomologe nicht.
Kinsey schließlich scheint geiler auf eine empirische Erhebung aller sexueller Erlebnisse eines Amerikaners zu sein, als auf seine eigene Frau. Wo soll sich da der Zuschauer der Person Kinseys noch annähern? Jemand der lieber die Masturbationsrate von Großmüttern auf Papier bringt und die Anzahl der Homosexuellen auf dem Campus zählt, als sich ernsthaft mit Liebe, Gefühl und Moral auseinanderzusetzen, soll uns am Ende Sorgen bereiten, als er fast an seiner eigenen, krankhaften Arbeitswut zu zerbrechen droht? Wir sollen uns aufgewühlt fühlen, wenn dieser kalte Statistiker, der über Sex so wie über Astrophysik redet, unter dem schrecklichen Geigengejaule von Burwells erschreckendem Score Altersschwäche zeigt? Und wir sollen uns ernsthaft geborgen und versöhnt fühlen, wenn es für ihn am Ende dieses Machwerks ein Leben für die Liebe gibt? Nie im Leben, die Figur hat zwar auf der Leinwand Sex und spricht viel über das Kopulieren, erscheint dabei aber wie ein analytischer Techniker ohne Verstand für Sinnlichkeit oder Erotik. Dem Zuschauer wird zu keinem Zeitpunkt die Biographie eines interessanten oder faszinierenden Mannes erzählt, sondern ein seelenloser Sexlaborant, dessen Moralbegriffe auch ohne das Heranziehen von rechtskonservativen Begriffen als fragwürdig deklassiert werden können.
Die Theorien sind auch einfach nicht überzeugend, weben weil Kinsey nicht das Verhalten der Menschen reflektiert oder gar mit diesen in psychoanalytischen Diskurs gegangen ist, sondern weil er sie nur erfasst und in Tabellen eingetragen hat. Seiner Logik zu Folge war alles normal, was praktiziert wurde, weil es praktiziert wurde – mit der ethischen und selbstverständlichen Ausnahme, dass der Sex einvernehmlich und ohne Schadenzufügung passieren solle. Nun muss nur noch aufgeklärt und somit zum Sex in allen Spielarten missioniert werden. Dieser sexuelle Opportunismus ist erschreckend tumb und vermutlich auch authentisch. Dass der Film genau die gleiche Position einnimmt und damit mit dem antiquierten Vorstellungen Kinseys gleichzieht, ist umso ärgerlicher.
Nicht nur, dass es Regisseur Condon es nicht fertig brachte, sich von der fragwürdigen Figur Kinseys zu lösen, ihn aus einem kritischeren Blickwinkel zu betrachten, sondern ihn auch noch am Ende an den Konventionen des Biopic-Genres zu ersticken, geben dem Film dann den Todesstoß. Das Klischee überladene letzte Drittel ist kaum ertragbar und erscheint in dem uninspirierten, angepassten 08/15-Glanz eines jeden Gefühlsdramas. Sexuelle Befreiung, menschliche Werte und allgemeines Wohlbefinden werden dem Zuschauer vor das Maul geworfen, als wäre "Kinsey" eine Art Wichsvorlage für Sexintellektuelle, sollte es solche geben. Denn am Ende befriedigt der Film nur das kurzweilige Verlangen des Zuschauers nach Befriedigung bezüglich dem allgemeinen Menschlichkeits- und Sexualverständnis. Der Zuschauer fühlt sich vom zarten Filmchen gedrückt und in all seinen sexuellen Eigenarten bestätigt. Das macht "Kinsey" nicht nur zu einem enttäuschenden Film, sondern auch noch zu einem abartigen Wegwerffilm, der nach Gebrauch, also nach erfolgter Bestätigung eben jener Emotionalitäten, eingemottet werden darf. Das ist dann eigentlich so wie Pornographie: Ohne je seelisch berührt zu haben, will der Film den Zuschauer nur kurzzeitig ein wohliges Gefühl in die Magengegend zaubern. Künstlerische, ethische und nachhaltige Werte findet man woanders.