Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1920) von John S. Robertson
Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1931) von Rouben Mamoulian
Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1941) von Victor Fleming
Robert Louis Stevenson hat mit der phantastischen Kriminalerzählung "Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde" (1886) zweifelsohne eines seiner bekanntesten Werke erschaffen. Die eigentümliche Handlung verdankt sich den damals nicht mehr unbedingt aktuellen, aber in den 1880er Jahren nochmals ein wenig aufgefrischten Debatten um Darwins Evolutionstheorie einerseits und den - 1880 auf die Theaterbühnen gebrachten - Kriminalfall William Brodie (1741-1788) andererseits (sowie gerüchteweise einem Alptraum, welchen Stevenson zuvor gehabt haben soll); wobei der Erfolg des Stoffes später seinerseits nochmals vom Fall Jack the Ripper profitierte, welcher die berüchtigte Thomas Russell Sullivan- & Richard Mansfield-Bühnenversion der Jahre 1887/1888 begleitete - was recht amüsant in dem erstaunlich hochwertigen TV-Zweiteiler "Jack the Ripper" (1988) von David Wickes zur (Film-)Sprache kommt. Auch die damaligen Fortschritte auf dem Gebiet der Medizin und der noch recht jungen Psychologie haben den "Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde" einen Stoff sein lassen, der gewissermaßen zur rechten Zeit kam, zumal die Doppelexistenz im von Doppelexistenzen (à la Oscar Wilde) geprägten viktorianischen Zeitalter - mit seinen anzüglichen, vulgären und doch so vordergründig keuschen Blüten- & Blümchen-Mustern auf Tapeten & Decken - ein ausgesprochen reizvolles Thema darstellte.
Was aber auch zum großen Erfolg des schnell zum Theaterstück umgearbeiteten Stoffes beigetragen hat - und was man sich heutzutage erst einmal wieder vergegenwärtigen muss -, ist der Umstand, dass Stevensons Geschichte in erster Linie als spannender Kriminal- & Detektivfall überzeugt, an dessen Ende erst die heute im Grunde jedermann bekannte Auflösung steht, derzufolge [Achtung: Spoiler!] der achtbare Dr. Jekyll und der niederträchtige Mr. Hyde ein und dieselbe Person sind (wenn auch der Name Hyde, dessen Wortspiel in der Erzählung explizit thematisiert wird, schon sehr früh Ahnungen provoziert).
Dieser Überraschungseffekt ließ bei jüngeren Generationen von Lesern schließlich nach: Wer Erzählung oder Bühnenversion(en) noch nicht kannte und wem die Enthüllung auch vom Hörensagen noch nicht untergekommen war, dem wurde es im Zuge der vielen Verfilmungen im frühen 20. Jahrhundert - ein gutes Dutzend Verfilmungen war im Stummfilmzeitalter bereits bis Mitte der 20er Jahre entstanden! - schwer gemacht, vor einer ersten Lektüre noch nichts vom Ausgang der Handlung zu wissen. Sehr schnell ging es den Leser(inne)n im frühen 20. Jahrhundert wie den heutigen Leser(inne)n: Man weiß bereits um die Pointe der Handlung, sodass der geheimniskrämerische Touch der Kriminalgeschichte eher eine kleine Enttäuschung darstellt, derweil die erste Verwandlungsszene lange auf sich warten lässt. Und weil sich Stevensons Erzählung zu jener Zeit nach wie vor gut verkaufte und weil die Bühnenversionen sich zumindest die 00er Jahre hindurch recht ordentlich hielten, war es also geradezu notwendig, ein Publikum anzuvisieren, welchem die Auflösung bereits bekannt war und welchem der rein kriminalistische Aspekt der Handlung daher herzlich egal war.
John S. Robertsons "Dr. Jekyll and Mr. Hyde" (1920), die berühmteste, abendfüllende Verfilmung des Stummfilmzeitalters mit John Barrymore in den Titelrollen, rückt die erste Verwandlungsszene Dr. Jekylls in Mr. Hyde daher in das erste - und nicht wie die Vorlage in das letzte - Drittel des ausgesprochen cleveren Films (der sich recht reflektierend auch bei Oscar Wildes Roman "The Picture of Dorian Gray" (1890) bedient, welcher Stevensons Erzählung einiges verdankt). Schon das Bühnenstück Sullivans & Mansfields, an welchem sich Robertson und seine Drehbuchautorin Clara Beranger orientierten, war in den 1880ern einen ähnlichen Weg gegangen - und hatte dem von Männerfiguren dominierten Text Stevensons zudem noch ein paar Frauenfiguren beigemengt: allen voran Agnes Carew, welche Dr. Jekylls Verlobte und zugleich die Tochter Sir Danvers Carews ist, welcher (wie bei Stevenson) zu Mr. Hydes Opfern zählt. Die 1920er Filmversion greift diese Entscheidung dankbar auf und wartet mit einer Millicent Carew auf, welche der Agnes Carew der Bühnenversion entspricht und Dr. Jekylls love interest abgibt, während Mr. Hyde hier an leichten Mädchen und der Tänzerin Gina Interesse zeigt, deren Darbietungen Dr. Jekyll eines Abends - von Sir Carew angestiftet - genossen hat, um infolgedessen sein fatales Mittel zu entwickeln, welches sein anderes Selbst entfesseln soll. Und so trinkt und raucht er als Mr. Hyde gänzlich ungeniert in den Elendsvierteln, wo er sich dann auch mit leichten Mädchen abgibt.
Solcherart gestaltet sich die erste Hälfte des (nicht nur unter Horrorfilm-Fans) ziemlich populären Stummfilms, bis der Streifen verstärkt dazu übergeht, sich an Robert Louis Stevensons Literaturvorlage zu halten: Dr. Jekyll setzt sein Testament auf, um Mr. Hyde sein Vermögen zu überschreiben - sehr zum Entsetzen seines Freundeskreises, ist doch Mr. Hyde ein übler Unhold, der in Stadt auch dadurch auffällt, dass er am hellichten Tag ein kleines Kind niedertrampelt und sich anschließend aus der Affäre zieht, indem er zur Überraschung der Zeugen mit einem Scheck Dr. Jekylls ein Schmerzensgeld für das Kind beschafft. Gemäß der Vorlage wird Hyde auch hier zum Meuchelmörder, wenngleich er sich hier vor den Augen seines Opfers Sir Carew von Dr. Jekyll - der sein Alter Ego längst nicht mehr in Schranken zu halten versteht und sich an Sir Carew, der ihn zu Beginn des Films mit seinen Anschauungen verführt und in diese Misere getrieben hat, rächen will - in Mr. Hyde verwandelt, welcher seinerseits Interesse daran hat, den ihm nachstellenden Carew zu beseitigen. Letztlich kann Dr. Jekyll wie in der Vorlage der Situation nicht mehr Herr werden: Hier ist es dann aber seine Verlobte Millicent Carew, die Zeugin seiner letzten Verwandlung wird und mit Jekylls Diener und seinen Freunden seinem Ableben beiwohnt.
Der 1920er Spielfilm, der seinerzeit über Gebühr gefeiert worden war und manchem Kritiker gar als richtungsweisendes Filmkunstwerk galt, entpuppt sich heute als etwas behäbiges, aber durchaus nicht unspannendes Filmchen: Man muss dieser Stummfilmversion sicherlich attestieren, dass sie in ihrer Verehrung der literarischen Einflüsse (Stevensons & Wildes) auch reichlich untertitellastig geraten ist. Die Leistung John Barrymores, der vor allem als spinnfingriger - und einmal (in Jekylls Alptraum) gar im Kostüm einer bedrohlichen Spinne auftretender -, hagerer, gebeugter, langhaariger Mr. Hyde und mit dem vollen Einsatz seiner Mimik besticht, die ordentliche, teilweise durchaus aufwendige Ausstattung und eine solide Kameraarbeit entschädigen aber für die durch viele Zwischentitel etwas ausgebremste Dramaturgie: Recht abwechslungsreiche Einstellungsgrößen - viele Großaufnahmen! -, gelegentliche (ganz minimale) Schwenks, der zweimalige Einsatz von Doppelbelichtungen, etliche Irisblenden und viele, detailreiche Kulissen verleihen der Form ein Maß an Spannung, welches der Dramaturgie eher abgeht.
Inhaltlich krankt der Film aber vor allem daran, dass er eine schon bei Stevenson wahrnehmbare Unwucht des Konzepts - die im Grunde in dem Vorhaben liegt, den janusköpfigen Menschen an sich in eine gute und eine schlechte Seite aufspalten zu wollen, um dann letztlich bloß die schlechte Seite zu behandeln, derweil der in sich ambivalente Mensch weitgehend synonym mit seiner guten Seite behandelt wird - noch zuspitzt: Ein sich zu Beginn rührend um die Ärmsten der Armen kümmernder Dr. Jekyll wird zunächst als das pure Gegenstück zum späteren Mr. Hyde entworfen, wobei Mr. Hyde letztlich als entfesselte Abspaltung einer bösen Seite Dr. Jekylls - nunmehr kein Gegenstück! - begriffen wird, welcher sich auch als er selbst zunehmend bösartiger gebärdet; und der Grund für seine Misere liegt nunmehr ganz explizit darin, dass er (von Sir Carew) zu unsittlichen Genüssen verführt worden ist - und weniger darin, dass es "ruther the exacting nature of my aspirations, than any particular degradation in my faults" gewesen wäre, welche aus Jekyll gemacht hat, was er geworden ist. Dr. Jekyll - der in den Zwischentiteln als ziemlich progressiv beschrieben und seinen eher konservativen Freunden gegenübergestellt wird - soll hier nicht das Opfer eines rigiden Zwangs zur Unterdrückung eigener Triebe sein, sondern das Opfer seiner Triebe. Robertsons Stevenson-Verfilmung ist gewissermaßen die konservativere Paraphrase ihrer wesentlich ambivalenteren Vorlage. Und so reicht der Besuch einer halbwegs anrüchigen Tanzhalle aus, um den ehemals so selbstlosen, aufopferungsvollen Arzt aus der Bahn zu werfen und ihn danach streben zu lassen, ein Mittelchen zu finden, mit welchem er eine Abspaltung seiner selbst kreiieren kann, die dann - ohne Gewissensbisse aufkommen zu lassen - allen erdenklichen Vergnügungen nachgehen kann. Jekyll war durchweg fromm, wird dann mit der Versuchung konfrontiert und erliegt ihr teilweise; und erschafft sodann den ruchlosen Hyde. Und wie schon bei Stevenson wird es diese Gewissensbisse, die aus der Welt geschafft werden sollten, dann eben doch geben: Zumindest bei Dr. Jekyll, der letztlich eben nicht seine böse Seite von seiner guten Seite getrennt hat, sondern bloß seine böse Seite von seinem insgesamt sehr ambivalenten Ich abgespaltet hat (welches später im Film auch als Dr. Jekyll mitunter böswillig handelt). (Bei Stevenson betreffen diese Gewissenskonflikte, die eigentlich getilgt werden sollten, sogar die böse Abspaltung Mr. Hyde, welche sich nicht ausschließlich in Notlagen aus reinem Eigennutz per Wundermittelchen wieder in Dr. Jekyll zurückverwandelt, sondern auch aus dem Wunsch heraus, wieder Dr. Jekyll zu sein.) Was Stevensons Dr. Jekyll erfunden hat, sind gewissermaßen bloß enthemmende Poppers, die sich auch auf das äußere Erscheinungsbild auswirken (als stünde einem das Böse oder Unsittliche immer auch gleich ins Gesicht geschrieben: spätestens hier zeigt sich auch die etwas naive s/w-Malerei, die gerade in den frühen Verfilmungen noch verstärkt wird - und die weiter unten nochmals aufgegriffen werden soll). Da Stevensons Dr. Jekyll aber gerade nicht nach einer Möglichkeit kurzzeitiger Enthemmung sucht, sondern nach einer Möglichkeit, den Menschen in eine gute und eine schlechte Seite aufzuspalten, sodass es keinen inneren Widerstreit und keinen Gewissenskonflikt mehr gibt, ist bereits diese Prämisse des Stoffes nicht so recht schlüssig: Denn der Gewissenskonflikt wäre nicht entfernt, sondern bloß verschoben und müsste bereits diese Forschung und jede einzelne, bewusste Einnahme des entdeckten Mittels begleiten, wenn doch mit Vorsatz ein Zustand angestrebt wird, in welchem man ungeniert Unrechtes oder Unsittliches begeht.
Auch die erste Tonfilm-Version des Stoffes, Rouben Mamoulians "Dr. Jekyll and Mr. Hyde" (1931), lässt nicht so recht erkennen, weshalb Dr. Jekyll vor Kollegen und Studenten dafür plädiert, das Gute (bzw. Zivilisierte) und das Böse (bzw. den Trieb) im Menschen voneinander zu trennen, um ein gutes Leben ohne Reue zu ermöglichen, in welchem einen die böse Seite nicht mehr länger belästige, weil sie sich ihrerseits ganz uneingeschränkt ausleben könne: einmal ganz davon abgesehen, dass die zugleich angestrebte Befreiung der bösen Seite der Menschen nicht nur dem Individuum keinen inneren Frieden bringen könnte (da der gute Teil des Individuums dessen bösen Teil mit einer bewussten Entscheidung herbeiführen müsste, die sehr wohl Reue & Gewissenskonflikte mit sich bringen müsste), würde sie der Gesellschaft insgesamt durch steigende Kriminalitätsraten erheblich schaden. Und es ist nicht so, dass bloß Dr. Jekyll ein gehöriger Naivling ist, sondern Stevenson selbst hat eine gehörige Portion Naivität in seine Erzählung gegossen, in welcher das Gute und das Böse klar definiert zu sein scheinen. (Und die viel naheliegendere Lösung, für eine Lockerung der Sittengesetze zu plädieren, wird von Dr. Jekyll kaum jemals angeschnitten, derweil Stevenson sie zumindest ganz nebenbei vage ins Spiel bringt: wie so oft sind die abstrakten Grundgedanken unter der konkreten Geschichte bei weitem spannender.) Mamoulian kann diese Naivität nicht gänzlich umschiffen, umgeht aber die vereinfachende Gut/Böse-Thematik weitgehend, indem er Dr. Jekyll auch weit konkreter von menschlicher Zivilisiertheit & tierischem Trieb sprechen lässt und indem er dessen Mittelchen zur Persönlichkeitsspaltung als eine Art extremes, enthemmendes Aphrodisiakum darbietet, das aus Jekyll einen Mann machen wird, der von seinen primitivsten Trieben übermannt wird. [Ein eng mit der Drogenthematik verbundenes Thema also, weshalb der Film auch niemals seine Aktualität eingebüßt hat, was von der konservativen 1920er Version nicht unbedingt gesagt werden kann.]
Eine große Hilfe sind Mamoulian dabei die 1887er Bühnenversion und Robertsons 1920er Stummfilm-Version, deren zwei Frauenfiguren er übernimmt und ausbaut, um zugleich auf die - als Kommentar auf die literarischen Vorlagen - nicht uninteressanten, aber zu ganz eigenen Problemen führenden Oscar Wilde-Anleihen zu verzichten: Hier entwickelt kein ursprünglich lammfrommer Dr. Jekyll sein wundersames Mittelchen, nachdem ihm ein verführerischer, dekadenter Zeitgenosse die Idee von zwei gegensätzlichen Seelen des Indivuums nahegebracht und ihn sodann in ein Tanzlokal geführt hat, sondern Jekyll - der ursprünglich nochmals von John Barrymore gespielt werden sollte - enwickelt sein Mittel gewissermaßen aus eigener Initiative heraus (und ohne dabei bereits spezielle Hintergedanken zu hegen, wenn auch aus einer sehr eindeutigen Stimmung heraus). Hier ist es nicht der süße Geschmack der einmal ansatzweise gekosteten Verderbtheit, welcher Jekyll alles daran setzen lässt, sein Mittel zu entwickeln, sondern Jekylls eigene (etwas verquere, recht naive, aber augenscheinlich von guten Absichten und von unbewussten inneren Wallungen herrührende) Theorie: Und das Resultat seiner Forschung ist kein böses, verschlagenes Alter Ego, sondern ein gänzlich enthemmter, unzivilisierter Hedonist.
So ist die 1931er Version - die erst in der Silvesternacht des Jahres 1931 ihre Uraufführung erlebte, um den regulären Kinostart erst im Januar zu erleben - dann auch der bei weitem erotischste Beitrag zum Horrorfilm der 30er Jahre; und einer der sadistischeren der frühen 30er Jahre noch dazu. Dass Mamoulian und die - hierfür oscar-nominierten - Autoren Samuel Hoffenstein ("Phantom of the Opera" (1943), "Laura" (1944)) & Percy Heath eine gehörig sexualisierte Lesart des Stevenson-Stoffes vorgenommen haben, hätte diesem vermutlich kaum zusagen dürfen; seinen Unmut diesbezüglich hatte er schon im Zusammenhang mit frühen Bühnen-Versionen zum Ausdruck gebracht, indem er über derartig interpretierende Verwerter, Kritiker und Leser urteilte: "people are so filled full of folly and inverted lust, that they can think of nothing but sexuality."[1] Das hinderte Stevensons Nichte ihrerzeit jedoch nicht daran, Mamoulian auch im Namen ihres längst verschiedenen Onkels für seine Verfilmung zu danken.
Zumindest mit ihrer ausgesprochen wohlwollenden Beurteilung der Qualität des Films hatte sie zweifelsohne Recht gehabt: "Dr. Jekyll and Mr. Hyde" ist formal einer der bestechendsten und ambitioniertesten Filme seines Jahrgangs, der auch noch mit großartigen darstellerischen Leistungen aufwartet und darüber hinaus eine der spannendsten Verfilmungen des Stoffes darstellt - und zwar nicht obwohl, sondern weil er gegen Stevensons Verschmähung einer sexualisierten Lesart verstößt (welche in letzter Konsequenz auch jenen Recht gibt, deren Position Stevenson eigentlich verurteilen wollte).
Hier wird Dr. Jekyll nicht als reiner Philantroph & Humanist eingeführt - wie zehn Jahre zuvor bei Robertson -, sondern als recht gewöhnlicher, wenngleich sehr gebildeter Charakter, der zwar sehr freundlich Kranke betreuen kann, vor seinem engen Vertrauten Lanyon aber auch schon einmal - im Scherz - davon spricht, seinen künftigen Schwiegervater Brigadier-General Carew zu erwürgen, als dieser seine Hochzeit mit Muriel Carew auf Monate aufzuschieben gedenkt. In derselben Nacht, in welcher er nach dieser kleinen Hiobsbotschaft mit Lanyon durch die Straßen zieht, wird die Prostituierte Ivy Pearson Opfer einer Attacke; Lanyon und Jekyll werden Ohrenzeugen des Angriffs, stehen der Frau bei und Jekyll verarztet sie anschließend auf ihrem Zimmer, wo sie sich ihm recht freizügig präsentiert und ganz unverblümt darbietet. Auf der Bettkante zieht sie ihre Strümpfe aus, wirft dem kichernden Jekyll ihr Strumpfband zu und einen Schnitt später - in welchem sonstwas geschehen sein mag! - liegt sie nackt unter ihrer Bettdecke. "How's the Pain now?", fragt Jekyll - nach wie vor unverändert bekleidet - und gibt sich ihrer Umarmung und ihren Küssen hin, als Lanyon hereinplatzt, um nach dem Rechten zu sehen. "Come back - soon...", haucht Ivy, während sich die Männer verabschieden und lässt dabei lasziv den Schenkel von der Bettkante baumeln. Per Doppelbelichtung pendelt die hübsch bestrumpfte Frauenwade wie der Zeiger einer tickenden Zeitbombe über dem heimkehrenden und etwas abwesenden Jekyll.
Das ist der Auslöser seines ersten Selbstversuches auf einem Gebiet, auf welchem sich Jekyll schon seit langer Zeit herumtreibt: die restriktive (Sexual-)Moral von Lanyon und Carew treiben Jekyll dazu, seinen aufgestauten Bedürfnissen Platz zu verschaffen. Damit ist Mamoulians Films nicht bloß progressiver als Robertsons berühmte 1920er Version, sondern er legt auch die zugrundeliegende Erzählung Stevensons auf eine interessante Weise aus (welche Stevenson selbst nicht gerade nahegelegt hatte, gegen die sich seine Erzählung aber auch nicht sperrt). Dr. Jekyll handelt hier letztlich aus durchaus selbstsüchtigen, egoistischen Beweggründen; seine - ohnehin nie ganz sinnigen - Erläuterungen scheinen ein einziger Selbstbetrug zu sein, während ihn insgeheim die unerträglich gewordene Lust umtreibt, seiner gehörig restriktiven Umgebung einmal zu entkommen. Das scheinbar so engagierte Vorhaben, die inneren Konflikte des Menschen aufzuheben, erweist sich in dem aus größter Aufgewühltheit geborenen Selbstversuch als ein vermeintlicher Ausweg aus einer bislang insgeheim verspürten Unzufriedenheit zwischen Moral und Trieb.
Diese erste Verwandlungsszene ist sicherlich eines der großen Bravourstücke des Films, der vielen Tonfilmen seines Jahrgangs meilenweit voraus ist. Mamoulian, der kurz darauf mit "Love Me Tonight" (1932) auf der Höhe seiner Inszenierungskunst war, setzt vom Filmbeginn an auf point of view-Momente, in denen das Publikum in Jekylls Rolle schlüpfen kann oder muss. Es ist fraglich, ob diese Technik die intendierte Involvierung oder nicht vielmehr eine größere Distanzierung erreicht, aber die bemerkenswert bewegliche Kameraführung ist in diesen Momenten erstaunlich und erreicht ihren ekstatischen Höhepunkt während Jekylls Verwandlung in den geilen Bock Mr. Hyde: Sein Gesicht nimmt - ohne jeden Schnitt, aber dank cleveren Make-Ups und geschickter Beleuchtung - vor dem Spiegel (in point of view-Darbietung) fremde Züge an; er bricht zusammen, der Kamerablick rutscht abrupt zur Seite und verfällt in einen rasenden Taumel. Schnelle, pausenlose 360°-Drehungen, schillernde Kaleidoskop-Muster und Ivys Reize, sowie Lanyons und Carews warnenden Gesichter überschneiden sich in bemerkenswert sauber arrangierten Mehrfachbelichtungen und dann fängt die Kamera vor dem Spiegel schließlich einen zum Hyde gewordenen Jekyll ein, der - Darwin lässt grüßen! - einem haarigen Affenmenschen gleicht und sich wie ein debiler, primitiver Lüstling einerseits und ein tobendes - aber: unschuldiges! - Kind andererseits aufführt. (Und weil sich manche Klischees vom primitiven Neger seit "Birth of a Nation" (1915) nicht unähnlich dargeboten hatten, kamen mit der Zeit immer wieder auch Rassismus-Vorwürfe auf.) Verschiedene Instrumente vereinen sich dabei zu einer rasenden, sirrenden Musik und ein sich permanent steigerndes Herzklopfen rundet die aufwühlende Tonspur bestens ab. (Spätere Verwandlungen im Film arbeiten dann wesentlich direkter mit meist geschickt kaschierten Schnitten während kurzer Reißschwenks vom Gesicht auf die verkrampften (und sich ebenfalls verändernden) Finger - erst gegen Ende verwandelt sich das Antlitz direkt vor der Kamera mithilfe doch eher durchschaubarer Schnitte.)
Und so kommt Jekyll als Hyde ("Free! Free at last!") schließlich den Aufforderungen Ivys nach: "Come back - soon..." Als elegant gekleideter, aber haariger, roher Wüstling mit schiefen Zähnen und einem beständigen Schmatzen, welches Heath Ledger Jahrzehnte später für seinen Joker plagiieren sollte, stellt er der käuflichen Frau nach, die sich zunächst mit ihm abgibt, es aber schließlich immer mehr mit der Angst zu tun bekommt, als Hyde ihr gegenüber immer deutlicher, unverhüllt aggressiv und sadistisch auftritt. Hyde degradiert sie zu seinem Privatbesitz, droht ihr, ängstigt sie mit sichtlicher Freude und verleiht seiner körperlichen Überlegenheit Ausdruck, indem er ihr grob an die Kehle greift oder die weinende Frau fest umklammert, um dabei seinen Mund auf ihre Oberweite zu pressen. Die sado-erotische Spannung untermalen Hauptdarsteller Frederic March (der hier vielleicht seine beste Leistung von ohnehin zahlreichen überdurchschnittlichen Leistungen abliefert) und Mamoulian nicht zuletzt dadurch, dass Hyde - während er Ivy (Miriam Hopkins, die als sowohl aufreizende, als auch verängstigte Prostituierte eine beachtliche Darstellung liefert!) bedrängt, demütigt und verhöhnt - ein enervierendes Knarzen erzeugt, indem er bedrohlich mit seinem Fingernagel über die Zinken eines Kammes fährt. (Erotische Kunst im Raum tut ein übriges.) Es ist eine noch heute unangenehme Szene sehr realen Horrors, die sich hier abspielt und später im Zuge des hays codes zurechtgekürzt worden war (bevor der Film schließlich aufgrund von MGMs Remake für Jahrzehnte aus dem Verkehr gezogen worden war). Wie weit diese Malträtierungen schließlich gehen, sieht das Publikum indirekt wenig später, wenn sich Ivy ihren wunden Rücken verarzten lassen muss - Hyde hatte zuvor verächtlich ihre schöne Haut thematisiert.
Das Niederrennen des kleinen Jungen, welches in der Literaturvorlage eines der anstößigsten Beispiele für Hydes Grausamkeit war (und schon im Erscheinungsjahr als sexuell motivierte Kinderschändung gedeutet worden ist), entfällt hier in diesem (an Sadismen reichen) Streifen zwar - wenngleich es im Drehbuch noch vorhanden und auch für Werbezwecke immer wieder thematisiert worden, von Mamoulian aber gar nicht erst gefilmt worden war! -, aber es gibt früh im Film eine Szene, die Dr. Jekyll dabei zeigt, wie er einem verletzten, kleinen Mädchen beibringt, ohne Krücken zu laufen. Diese Szene ist ab der zweiten Betrachtung des Films ungeheuer spannend, weil die Kamera in point of view-Sicht von den Schuhspitzen über die kindlich bestrumpften Beine zum strahlenden Gesicht des Mädchens schwenkt (ähnlich dem Aufwärts-Schwenk von Miriam Hopkins' Füßen auf ihr Gesicht![2]), das mit ausgebreiteten Armen und einem Lächeln auf Dr. Jekyll zuwankt, der sich dann im Gegenschnitt erfreut rückwärts gehend von ihr entfernt und sie somit dazu nötigt, eine noch weitere Distanz zurückzulegen. Das hat bereits etwas Sadistisches - wenngleich sich Jekyll ansonsten keiner der erwachsenen Frauen auf sadistische Weise annähert -, auch wenn dieses Nötigen aus ärztlicher Perspektive Sinn machen dürfte und das Mädchen keinesfalls unglücklich wirkt. Aber die freudige Ekstase in ihrem Gesicht, seine - in der point of view-Einstellung dem Publikum direkt vermittelte - Aufsicht auf das Mädchen, welches seinen Aufforderungen Folge leistet, wirken keinesfalls mehr unschuldig, wenn sich später ein latenter Sadismus Jekylls in Form Mr. Hydes Bahn bricht. Eine unerhörte, aber keineswegs zufällige Assoziation, mit welcher der Film seinen Gipfel der Unanständigkeit erreicht.
Im Gegensatz zu Robertsons Version nimmt Mamoulians Verfilmung nun jedoch nicht größeren Bezug auf die Literaturvorlage, sondern geht weitgehend eigene Wege: Ivy sucht nach ihrer schweren Misshandlung durch Mr. Hyde hilfesuchend Dr. Jekyll auf, der ihr ja schon einmal beigestanden hatte. Dieser verspricht Hilfe, teilt ihr mit, dass dieser Mr. Hyde sie nie mehr aufsuchen werde - ohne zu ahnen, dass er die Wirkung der Droge längst nicht mehr kontrollieren kann. Doch auf dem Weg zur Feier, auf welcher General Carew die baldige Hochzeit von Muriel Carew und Henry Jekyll bekanntgeben will, hält ihn das Trällern einer Nachtigall auf: Er lauscht, sieht ihr zu und wird Zeuge, wie eine schwarze Katze sich den kleinen Vogel fängt. Da rührt sich etwas in ihm, er verkrampft sich und verwandelt sich wieder in Mr. Hyde, der nun Ivy aufsucht, um sich für ihr Hilfegesuch zu revanchieren. In einem der vielen split screens des Films, in welchem wie ein rückwärts laufender Uhrzeiger eine Trennwand zwischen den simultan laufenden Einstellungen hochklappt, sieht man allmählich immer mehr von den Feierlichkeiten der Carews, derweil sich in einem immer schmaler werdenden Bereich des Bildes Mr. Hyde auf den Weg zu Ivy macht. Kaum füllen die Carews gänzlich die Leinwand aus, wandert die Trennwand wieder zurück und gibt anstelle Mr. Hydes nun Ivy preis, welche kurzzeitig auf der einen Hälfte des diagonal geteilten split screens zu sehen ist, während sich Muriel Carew auf der anderen Seite zeigt. Dann ist das Bild schließlich ganz bei Ivy, die einen Schnitt später vor ihrem Spiegel Jekylls angebotene Hilfe feiert, als im Spiegelbild zu ihrem Entsetzen ihre Zimmertür aufgeht und den Blick auf Mr. Hyde preisgibt. Auch hier wird Hydes Sadismus grausig ausgespielt: Zwar ließ man letztlich die anrüchigsten, direktesten Dialoge des Originaldrehbuchs unter den Tisch fallen, aber auch in dieser Form bleibt die Szene gerade für das Erscheinungsjahr harter Tobak. Hyde droht ihr an, sie zu töten, verrät ihr aber zuvor noch all ihre Formulierungen, die sie an Dr. Jekyll gerichtet hatte; er verrät ihr, dass er selbst Jekyll ist und beginnt, sie zu würgen. Ivy flieht, Hyde versperrt ihr den Weg und erwürgt sie scherzend in Großaufnahme, um - als er mit ihr aus dem Bildfeld sinkt - den Blick auf eine Plastik freizugeben, in welcher eine nackte Frau und ein geflügeltes Fabelwesen in erotischer Liebkosung miteinander verschlungen sind.
Nach seinem Mord stößt er auf Lanyon, vor welchem er sich in Jekyll zurückverwandelt und alles gesteht, ohne jedoch auf Verständnis zu stoßen. Später will er ein letztes Mal Muriel aufsuchen, um sich von ihr loszusagen, verwandelt sich aber kurz nach ihrem (Muriel ratlos zurücklassenden) Gespräch - nach welchem Muriel hochdramatisch über ihrem Flügel zusammenklappt und die Situation unfreiwillig aber ziemlich passend 'musikalisch' untermalt - neuerlich in Mr. Hyde. (Und ein drittes Mal schwenkt die Kamera in Aufsicht von der Fußspitze einer Frau auf ihren Kopf, als das Publikum mit ihm auf Muriel blickt!) Hyde erschlägt General Carew, flüchtet sich - in einer Sequenz voller bemerkenswerter Schattenwürfe - in Jekylls Labor und wird dort von Lanyon und der Polizei gestellt, vor welcher er als Jekyll alles leugnet, um sich dann nochmals in Hyde zu verwandeln und erschossen zu werden.
Während Lanyon, Polizisten und Jekylls weinender Butler den Leichnam umgeben, fährt die Kamera zurück hinter das lodernde Feuer eines Kamins: eine drohende Höllenvision in einem ansonsten nicht übermäßig moralisierenden Film.
Split screen, point of view, viele, teils komplizierte Fahrten, 360°-Schwenks, eine ausgefeilte Beleuchtung, Überblendungen, Doppel- & Mehrfachbelichtungen, dynamische Bildkompositionen und Schattenwürfe, liebevolle und subtil genutzte Ausstattungen, überwiegend herausragendes Make-Up, jede Menge Symbolik, ein oscar-prämierter Hauptdarsteller und eine wundervolle Miriam Hopkins: Inszenatorisch & darstellerisch ist dieser Film fraglos allererste Sahne. Kameramann Karl Struss - der unter anderem die hervorragenden Bilder für "Sunrise" (1929) von Murnau erschaffen hat, welcher übrigens seinerseits mit "Der Januskopf" (1920) eine leider verschollene Jekyll- & Hyde-Verfilmung (mit Bela Lugosi in einer Nebenrolle!) gedreht hatte - wurde hierfür völlig zurecht für einen oscar nominiert, der dann allerdings an Lee Garmes für den hervorragenden "Shanghai Express" (1932) ging.
Im Hinblick auf die Inszenierungskünste überragt "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" (1931) sogar die beiden anderen Klassiker des frühen Tonfilms dieses Jahres: Tod Brownings "Dracula" (1931), dessen Inszenierung nach dem effektvollen Prolog unscheinbarer wirkt, im Detail aber durchaus Großes leistet, und James Whales "Frankenstein" (1931).
Es verwundert dennoch nicht, dass Mamoulians "Dr. Jekyll and Mr. Hyde" - trotz vieler Parodien - nie deren Status erreichen konnte: Ein weniger gravierender Grund liegt sicherlich darin, dass der Film in erster Linie kein Horrorfilm sein will, sondern ein durchaus mit perversem Humor (& thrill!) aufgeladenes, phantastisches Drama. Für Genrefans ist er gewissermaßen kein reiner Vertreter - und spielt damit sozusagen in der zweiten Liga.
Es fehlt ihm aber - und das ist der durchaus gravierende Grund! - ein wenig der geschickte Umgang mit dem Fremden (das im klassischen Horrorfilm in den meisten Fällen die Bedrohung darstellte). In "Dracula" gab es zwar den bedrohlichen Osteuropäer, der aber zugleich immerhin als attraktiver, galanter Verführer mit unglaublich hoher erotischer Ausstrahlung auftrat; in "Frankenstein" gab es zwar das abschreckend aussehende und unheimlich-bedrohlich wirkende Monster, welches aber vor allem Unschuld ausstrahlte und durchaus Mitleid erregte. In "Freaks" - gewissermaßen das pièce de résistance des klassischen Horrorfilms! - gab es zwar attraktive 'Normale' und bisweilen furchterregend in Szene gesetzte 'Freaks', aber die Sympathien lagen letztlich vor allem auf der Seite der Letztgenannten. Und Quasimodo und selbst noch das Phantom der Oper waren hässliche, aber tragische und Mitleid erregende Figuren.
"Dr. Jekyll and Mr. Hyde" hingegen ähnelt eher dem Motiv des Tiermenschen - und dem ähnlich strukturierten Werwolf-Film, wenngleich er letztlich komplexer ausfällt (so ist der Werwolf in menschlicher Gestalt nicht selten vollkommen unschuldig, während ein Dr. Jekyll stets über eine dunkle Seite verfügt, die als Mr. Hyde ausbricht!) und weit subtiler in Szene gesetzt wurde; aber in beiden Sparten bleibt die fremde, unheimliche Form zunächst auch konsequent mit der Bedrohung selbst verbunden. Natürlich wählt Mamoulian unter Berufung auf Darwin die Form des viehischen Mannes; und Mamoulian lässt den vor allem komödiantisch begabten March seinen Hyde zu Beginn auch recht putzig wirken: als unreflektierenden Kindskopf, der bedingungslos sein Vergnügen auslebt und - von Jekyll der Fähigkeit moralischer Reflexion beraubt - kaum die ganze Verantwortung für seine Taten trägt; und zudem steht er bloß für eine Seite eines letztlich ganz normalen Menschen. Aber man braucht nur einmal den Stoff um La belle et la bête dagegenzuhalten: Dort sieht man schließlich auch tatsächlich ein schönes Wesen, sobald man den guten Kern unter der hässlichen Oberfläche erblickt hat.
Der Film, der diesen kleinen Mangel ausgebessert hat - ehe es sich schließlich einbürgerte, dass der Hyde im Jekyll auch zugleich die attraktivere - oder zumindest nicht minder hübsche - Figur war ("The Two Faces of Dr. Jekyll" (1960), "The Nutty Professor" (1963) samt Remake, "Dr Jekyll & Sister Hyde" (1971)), war dann ausgerechnet der von vielen nicht ganz so geschätzte "Dr. Jekyll and Mr. Hyde" (1941) von Victor Fleming. Fleming, einer der Regisseure von "Gone With the Wind" (1939) & "The Wizard of Oz" (1939), hat hiermit einen Prestige-Film von MGM gedreht, der vor allem deshalb so unbeliebt ist, weil man seinetwegen das zehn Jahre ältere Konkurrenzprodukt von Paramount für viele Jahre wegsperren ließ.
Und beide Filme konkurrieren in der Tat sehr stark miteinander, ist doch Flemings Version weniger eine Neuverfilmung der zugrundeliegenden Erzählung, sondern vielmehr ein Remake des damals populären Tonfilmklassikers (der ja seinerseits bereits so eine Art freies Remake des 1920er Stummfilmklassikers darstellte): Der komplette Handlungsstrang um die nach wie vor Ivy heißende Ivy wird ohne größere Abstriche übernommen. Flemings Version hatte also nicht bloß einen schweren Stand, weil sie einen gefeierten und im Grunde noch recht jungen Film wenig originell nachstellte (und weil die frühere Version seinetwegen unter Verschluss gehalten wurde), sondern auch deshalb, weil man die Sexualisierung nach dem hays code nicht mehr ganz so effektiv ausspielen konnte. Und auch wenn Fleming ein kompetenter Regisseur war, so war er nicht unbedingt ein innovativer und übermäßig kreativer Regisseur: Rein visuell gibt die zehn Jahre ältere Version Mamoulians wesentlich mehr, sie besitzt mehr visuelle Spannung in ihren Kompositionen und mehr erotische Spannung in ihren sado-erotischen Konfrontationen des Sadisten mit dem leichten Mädchen. Gewiss: auch Spencer Tracy - der später nicht mehr viel mit dieser Rolle anzufangen wusste und sie anfangs auch nicht übernehmen wollte - greift hier einer weinenden Frau an Kinn & Hals und zwingt sie zum Singen, um sie dabei zu verlachen. Aber er knarzt nicht bedrohlich mit dem Kamm, er vergreift sich auch nicht an ihren Brüsten; es gibt keine erotische Kunst im Hintergrund zu bestaunen und im Gipfel seiner Ruchlosigkeit wirft er Ingrid Bergman - die nicht annähernd so verstörend bebt & zittert wie Miriam Hopkins - ein Stückchen zusammengeknülltes Papier an den Kopf. Sadismus light! Und wenn Hyde Ivy schließlich zu töten gedenkt, teilt er ihr das nicht in sadistischer Absicht zu Beginn ihres Treffens mit, sondern erst dann, wenn er auch Hand anlegt - und wird dann auch noch überrascht und muss fliehen, sodass sich das Publikum damit beruhigen kann, dass sein Opfer womöglich doch noch am leben ist.
Dieses Remake wühlt in seinen kaum noch verstörend zu nennenden Szenen nur noch wenig auf und ersetzt inszenatorische Subtilität durch flachen Prunk & Glamour. Alles sieht ausstattungsmäßig etwas opulenter aus; ständig blinkt reflektiertes Licht von Augäpfeln, Ohrringen, Schweißperlen und Weinflaschen in die Kamera; die Haare der Bergman sind auch dann noch perfekt frisiert, wenn Tracy sie misshandelt. Und effektive Momente der Inszenierung stammen meistens direkt aus dem großen 1931er Vorbild: etwa Hydes Eintreten in Ivys Zimmer, welches sie mit dem Publikum als Spiegelung in ihrem Spiegel wahrnimmt. Point of view-Momente vermeidet Fleming dabei jedoch ebenso wie die split screen-Technik. Lediglich das Spiel mit Mehrfachbelichtungen bei der ersten Verwandlung greift auch Fleming wieder auf: Strudelndes Wasser, brodelnde Brühe und darüber die Objekte seiner Begierde, welche kurzzeitig an die Stelle der gepeitschten Pferde seiner Kutsche treten. Inszenatorische Finesse ist das nicht unbedingt; und an die Stelle heimsuchender Erinnerungsbilder treten küchenpsychologisch aufgeladene Visionen, welche eine halluzinogene Wirkung der eingenommenen Droge andeuten. Aber dank Franz Waxmans Musik, Joseph Ruttenbergs Kamera, der glamourösen Ausstattung und bekannter Stars bekommt man hiermit klassisches Hollywood-Kino der edleren Sorte geboten, welches als effektiver Horrorfilm weniger funktioniert als die 1931er Version.
Aber es sind auch interessante, wenn auch nicht unbedingt vorteilhafte Neuerungen vorhanden in diesem Remake. Die Überarbeitung des 1931er Drehbuches durch John Lee Mahin ("Quo Vadis" (1951), "The Bad Seed" (1956)) lässt den Film mitten im Gottesdienst beginnen, aus welchem ein pöbelnder Mann herausgeführt wird, der seit einer Explosion laut Aussage seiner Gattin nicht mehr derselbe ist - und der nun als Geisteskranker gegen die religiöse Sittenstrenge pöbelt und für das Laster rebelliert. Die restriktive Haltung von Lanyon & Carew wird somit explizit eingetauscht gegen eine restriktive Haltung einer Gesellschaft an sich - oder zumindest gegen die Haltung einer ihrer tragenden Institutionen. Unübersehbar ist der Film jedoch konservativ genug, um diese zu nicht einmal im Ansatz zu hinterfragen - und den Verstoß als unreflektierte, ungesunde Folge einer geistigen Erkrankung hinzustellen, für die der Betroffene zwar nichts kann, die aber in jedem Fall indiskutabel ist. Jekylls Motivation scheint diesmal tatsächlich edel zu sein: Seine Erkundung der Zweiteilung der menschlichen Seele scheint bloß das Ziel zu verfolgen, derartige Kranke zu heilen und die übrigen Menschen von ihrer dunklen Seite zu befreien. Und keine Verschiebung einer Hochzeit, sondern der Rat des künftigen Schwiegervaters, diese blasphemischen Forschungen aufzugeben, erweckt Jekylls Verärgerung in jener Nacht, in der er mit Lanyon dem Amüsiermädchen Ivy zur Hilfe kommt, welches ihn auch hier - nicht ganz so explizit in Szene gesetzt - zu verführen gedenkt. Jekylls Entschluss zum Selbstversuch entsteht hier nicht mehr ganz offensichtlich aus einer uneingestandenen, sexuellen Frustration, die nach ihrer Entladung sucht, sondern aus einer etwas uneindeutigeren, breiter gefächerten Unzufriedenheit. Der tragische Held ist somit - trotz der auch in ihm wohnenden, bösen Seite - eine ganze Ecke unschuldiger und uneigennütziger; die tierischen Triebe weichen hier einer geistigen Verirrung, die nicht mehr in allererster Linie eine sexualpathologische Störung darstellt.
Die 1941er Version ist somit - infolge des hays code - eine wesentlich weniger subversive Neuauflage der recht ergiebigen 1931er Version; die aber immerhin den progressiven Vorstoß mit sich bringt, Mr. Hyde nicht mehr als monströs verunstaltete Figur darzubieten, nicht mehr als Fremden, sondern als etwas ganz vertrautes: als einen ganz normal aussehenden, wenngleich etwas unsympathisch grimassierenden Mann. (Zu Tracys Unzufriedenheit soll sich Somerset Maugham bei einer Vorführung allerdings einmal geäußert haben: "Which one is he playing now?")
Für kommende Verfilmungen ist dieses Remake eines freien Remake daher von entscheidender Bedeutung - an sein Vorbild kommt es dennoch nicht heran. Die anständige Inszenierung hebt ihn aber dennoch über das Gros kommender Verfilmungen, von denen vor allem noch Renoirs "Le testament du Docteur Cordelier" (1959) genannt werden muss.
Schwache 7/10 für die 1920er Version, 8,5/10 für die 1931er Version und 7,5/10 für die 1941er Version...
1.) Vgl.: Burkhard Niederhoff: Erzähler und Perspektive bei Robert Louis Stevenson. Königshausen & Neumann 1994; S. 52 ff. / Andreas Dierkes: A Strange Case Reconsidered. Zeitgenössische Bearbeitungen von R. L. Stevensons Dr Jekyll and Mr Hyde. Königshausen & Neumann 2009; S. 63 ff.
2.) Dieser point of view-Schwenk von den Fußspitzen bis zum Gesicht betrifft nicht bloß Jekylls Blick auf das ihn offenbar abgöttisch verehrende, behinderte Mädchen und die ihn verführende Ivy, sondern auch Hydes Blick auf die ohnmächtige Muriel im Finale. Das macht diese anfängliche Szene zwischen Jekyll und seiner jungen Patientin zu einer so skandalösen wie unscheinbaren Angelegenheit...