Wow, im Juni 2014, wimmelt es auf OFDB ja nicht gerade vor Einträgen: eine Bewertung, kein Text. Und bis Oktober 2017 immer noch kein Text. So liegt es an mir. Puh! Diese Verantwortung! *** SPOILER ***
WENDY AND LUCY (2008), ein deutlich neuerer Film der Regisseurin Kelly Reichardt, ist einer meiner Lieblingsfilme, hier auf DVD erschienen und einigermaßen bekannt. Ihr Debütfilm RIVER OF GRASS (ROG) (1994; 73 Minuten) ist dagegen in Deutschland eine Art weißer Fleck. Also reiste ich die 90 Minuten nach München ins Filmmuseum, zur Reichardt-Werkschau, wo sich gerade mal etwa 20 Leute für Kelly Reichardts Anfänge interessierten. Perfektes Timing: ROG lief ausgerechnet am Eröffnungstag des Filmfests München, so ist natürlich weiterhin ein Ausbleiben des Publikum sichergestellt. Gut gemacht, Filmmuseum!
ROG variiert die Motive "kriminelles Paar auf der Flucht", doch viel bleibt nicht übrig von den bekannten Vorbildern. Reichardt sagt, sie und der Cutter, der auch die Hauptfigur Lee Ray spielt, hätten stets versucht "Kommentare" und "Wiederholungen" zu anderen Filmen zu vermeiden. Das passt zu ihren OLD JOY (2006), MEEK'S CUTOFF (2010) und NIGHT MOVES (2013). Alle schienen mir wie Meditationen zu bekannten Themen (Männerfreundschaft, Western, Thriller), aber mit der Absicht, Erwartungen planmäßig zu enttäuschen.Exkurs: "River of grass" ist der indianische Name für die Everglades: ein Fluss, der aus Gras besteht, nicht aus Wasser. Bestenfalls aus überwachsenem Wasser (Sumpf). Ein Ort, wo Bewegung schwer fällt, denn ein Fluss aus Gras ist für's Befahren denkbar ungeeignet. Also ein Ort, der ein fliehendes Paar automatisch aufhalten muss.
Und so geht es den beiden Figuren auch. Es fängt schon damit an, dass sie sich quasi nicht kennen, nur in einer Kneipe, im Rausch, unterhalten sie sich relativ angeregt und entspannt. Das war's auch schon. Während der Flucht lernen sie sich nicht kennen. Reichardt vermeidet jede Spur der Romanze, die in solchen Filmen zwangsläufig dazu gehört. Es gibt auch keinen reinen Sex, es gibt nur eine kurze Chance auf Annäherung, die gleich zur Flucht führt. Zu fliehen wäre dabei nicht nötig gewesen, aber Lee Ray und Cozy überlegen nicht. Fast wirkt es, als hätten sie nur einen Grund zur Flucht gesucht. Vielleicht ist es viel eher Sehnsucht, die sie antreibt. Denn die Flucht ist Selbstzweck, ein Ziel haben sie nicht. So bedeutet ihre Flucht, die in anderen Filmen alles andere als statisch abläuft, dass die Zwei bewegungslos im Motelzimmer verweilen, apathisch, im Limbus gefangen.Hellsichtig kommentiert Cozy die Geschichte aus dem Off. Sie habe zwar alles hinter sich gelassen, aber doch sei alles gleich geblieben.
Irgendwann versuchen sie tatsächlich, im Auto weiter weg zu fahren, doch die Flucht scheitert an der Mautstelle. In Ermangelung eines "Quarters" (25 Cent!) für die Maut werden sie zurückgeschickt. Und sie fügen sich kampflos. Denn, anders als meist im Film, sind sie auch in keiner Weise aktiv oder gar kriminell. Obwohl sie fasziniert mit einem gefundenen Revolver hantieren, vor allem der Junge Lee Ray, sind sie unfähig, ihn zielgerichtet zu nutzen.Ihre ganze Flucht beginnt, weil (sage ich) "a jerk and a gun", ein Trottel und ein Revolver, zusammenkommen. Lee Rays ständiges Rumfummeln an der Pistole, wahrscheinlich typisch westlich-männlich, das mich um so mehr aufregte, als ich selbst den achtsamen Umgang mit Schusswaffen lernen musste, führt letztlich zum Problem: Ein Schuss löst sich, in Richtung eines zufällig auftauchenden Mannes im Bademantel. Ausgerechnet in dem Moment, als Lee Ray und Cozy (die Ehefrau, die Mann und Kinder im Stich ließ) sich einander ein wenig zärtlich zu nähern beginnen, richtet Mr. Bademantel eine Taschenlampe auf die Beiden. Schuss. Um Lee Rays Dummheit zu vervollständigen, und Cozy ist nicht besser, fliehen beide ohne Blick zurück - sonst hätten sie gesehen, dass ein Schuss in die ungefähre Richtung den Mann nicht getötet hat - eigentlich ein naheliegender Gedanke. Doch die Zwei sind so hilflos... oder folgen kopflos der Sehnsucht. Da wären wir wieder beim "Limbus", in dem sie hängen. Doch ohne Talent zur Liebe, ohne Talent zur Kriminalität.
Und, was Lee Ray anbelangt, keines zur klassischen Männlichkeit. Wie in Reichardts ODE, oder wie in MEEK'S CUTOFF, sind die Männer schwach, die Frauen weniger. In NIGHT MOVES sind Josh und Harmon zwar tätig, aber vor allem Josh ist wie ferngesteuert, wie ein Roboter, dazu sozial isoliert, unfähig zur Teilhabe. (In WENDY AND LUCY tauchen Männer nur als bedrohliche Gewalttäter, Profiteure am weiblichen Elend oder als Obrigkeit auf; nur der Parkplatzwächter, als "Alter Mann" längst jenseits von Gut und Böse, bildet bei WENDY AND LUCY eine Ausnahme.)Am deutlichsten in ROG: dem Schuss vorausgehend, nimmt Cozy ein Bad im fremden Swimmingpool. Plötzlich entsteht ein erhebendes Gefühl, eine Person im Einklang mit dem Element Wasser; doch Lee Ray bleibt apathisch am Beckenrand sitzen, ohne Kontakt zu Wasser, Cozy oder der Situation. Dafür spielt er mit dem Revolver. Der natürlich, wie im wahren Leben, als Kontaktaufnahmegerät, als Mittel zur Selbstermächtigung, zur Statusdefinition, als Penisersatz dient (Reichardt: "The gun in this scene is the real object of desire - at least for Cozy". "Der Revolver ist hier das wahre Objekt der Begierde - jedenfalls für Cozy."). Cozy nähert sich Lee Ray, über den Revolver, ihre beider Hände und der Revolver spielen miteinander - natürlich ejakuliert im Moment des Erwischtwerdens die Kugel.
Am Schluss des Films endet die Beziehung der Zwei entsprechend. Die stärkere Frau entledigt sich des schwachen Männchens. Cozy befreit sich von dem Trottel (so sage ich - Cozy lässt fast nie eine Reaktion oder Gefühl ihm gegenüber erkennen. Oft sieht sie, dösend, ins Leere, träumt sich aus der Situation hinaus). Der Tod findet sehr off-screen statt, sehr unterspielt - so ist der ganze Film, und Reichardts ganzes Werk. Cozy schießt in Richtung des Beifahrersitzes, den Platz, den, wie wir wissen, Lee Ray okkupiert hat. Schnitt: Cozy schließt, im Fahren, die Beifahrertür, aus der sie ihn, wohl angeschossen oder tot, gerade rausgestoßen hat.Cozy geht noch weiter: Ihm hinterher wirft sie die Pistole, dann sehen wir auch noch, wie sie ein Stopp-Schild überfährt.
Doch sich all dieser zivilisatorischen Tünche, sich dieses männlichen Klotzes am Bein zu entledigen, genügt nicht, so sagt der Film: Cozy fährt weiter, als beginne ihre Flucht endlich hier, oder setze sich fort, doch alles, was wir davon sehen, ist ihr kleines Auto, das inmitten 1000er anderer Autos auf einer fünfspurigen Straße vor der Kamera herfährt. Das Auto verlässt die Straße nicht mehr - dann endet der Film. (Kafkas "Gib's auf!" lässt grüßen.)Reichardt kommentiert ihr Ende: "The way it ends now is a direct result of my experiences in making the film" ("Wie der Film jetzt endet, hängt direkt von meinen Erfahrungen beim Machen des Films ab" [die sie vorher als ständigen Kampf beschrieben hat. Jeder Schritt: Schreiben, Produzieren, Drehen sei konstante Verteidigung ihrer Position gewesen. Auf jeden Erfolg sei die nächste Auseinandersetzung gefolgt]. Cozy gets to play out my fantasy which is what gets her to the other side of all the bullshirt - where, we both find out there is just more bullshit." ("Cozy spielt dann meine Fantasie aus, die sie auf die andere Seite all dieser Scheiße bringt - wo, wie wir beide erfahren, nur noch mehr Scheiße ist".) Jenseits all der Scheiß-Situation fänden sich nur noch mehr Scheiß-Situationen.
Ein anderes Mal zieht Cozy das Fazit: "Wir hatten den Mann nicht getötet, vielleicht nicht einmal das Ungeziefer im Badezimmer. [Ebenso offscreen, wie Cozy auf Lee Ray schießt, hat Lee Ray im Motel ein Krabbeltier gejagt.] Und wenn wir keine Killer waren, so waren wir gar nichts."So viel zur Utopie, mit der sich ROG beschäftigt. Laut Dominik Kamalzadeh im Programm des Filmmuseums, sind Utopien, das Unterwegssein, bestimmende Elemente bei Reichardt. Wenn ich überlege: richtig! ROG: die Flucht; OLD JOY: die Wanderung, um die alte Freundschaft zu beleben; WENDY AND LUCY: Wendys Reise zu den Fleischtöpfen eines guten Jobs; MEEK'S CUTOFF: der Treck gen Westen; NIGHT MOVES: die lange Reise vom Staudamm oben auf dem Damm bis zum Fuß des Damms im Stausee selbst. ODE (dazu sollte ich dann später auch noch schreiben) fällt leicht raus: auch hier wollen Mädchen und Junge eine Utopie leben (die Liebe), als Minderjährige können sie sich aber nur bis zur Brücke bewegen, die eine Art mystische Grenze zwischen Schule und Reich der Eltern bildet (der Junge "entkommt" letztlich, aber nur durch Flucht in den Freitod).
Fazit: ROG ist nicht auf die Sympathie des Publikums aus. Scheiternde Utopie, enttäuschte Erwartungen, meditative Ruhe, keine einfachen Identifikationsmodelle, ein typisch unzugänglicher Independent-Film. Mit solchen Filmen wuchs ich in den 1980ern auf. So liegt er mir natürlich sehr am Herzen, auch als Teil von Reichardts Gesamtwerk. Doch für viele Leute dürfte er zu sperrig sein.