2005 wird offenbar das Jahr der filmischen Biografien. Nachdem im letzten Jahr „Alexander“ den Anfang machte, kommen im Laufe dieses Kinojahres noch einige weitere Bio-Pics in unsere Kinos, so z. B. „Aviator“ von Martin Scorsese und „Kinsey“, ein Film über den Mann, der damals so viel Aufsehen mit seinem Report über sexuellen Gewohnheiten der Menschen erregte. Und mit „Ray“, der Biografie des legendären Musikers Ray Charles, startet nun das Jahr der Filmbiografien auf sehr beeindruckende Weise.
In ca. 150 min spannt der Film den Bogen von Rays Kindheit im ärmlichen Florida in den 40ern über den Beginn seiner Karriere in den 50ern und seinem Aufstieg in den 60ern bis hin zu seinem späten Triumph in den 70ern, als sein Hit „Georgia“ zur Hymne des gleichnamigen US-Bundesstaates ernannt wird.
Seine Kindheit, die in virtuos eingeflochtenen Rückblenden erzählt wird, ist hart. So muss er den Ertrinkungstod seines Bruders mit ansehen, an dem er sich viele Jahre lang die Schuld gibt. Die filmische Umsetzung dieser Schuld ist genau so beeindruckend wie wirkungsvoll:
Er steht später immer wieder plötzlich in seichtem Wasser, so z. B. in einem Hotelflur, das natürlich nicht da ist, ihn aber in Panik versetzt und die Bilder seines ertrinkenden Bruders wieder hochkommen lässt.
Im Alter von 7 Jahren wird Ray langsam blind. Auch für die Darstellung dieses Prozesses findet der Regisseur Taylor Hackford, bekannt geworden durch „Ein Offizier und Gentleman“ eine äußerst einfache Methode: Er zeigt einfach, wie sich das, was Ray sieht, stetig verschlechtert.
Seine Mutter, sehr eindringlich gespielt von Sharon Warren, behandelt ihn trotz seiner Blindheit nicht als Behinderten. Das gibt ihm Selbstbewusstsein und macht ihn hart. Sie zeigt ihm Dinge nur einmal, beim zweiten Mal hilft sie noch und beim dritten Mal muss er es alleine können. In einer Szene fällt der Junge in ihrer schäbigen Behausung hin. Er winselt um Hilfe, aber seine Mutter lässt ihn unter Tränen auf dem Boden liegen. Nach dem ersten Schock rappelt er sich langsam hoch und achtet auf alle Geräusche um ihn herum, wie eine Grille über den Fußboden kriecht, das Knacken des Feuers und auch auf seine Mutter.
Sie schickt ihn auf eine Blindenschule und gibt ihm den Rat "Lass Dich nie von jemandem zum Krüppel machen!" mit auf den Weg.
Und in den folgenden Jahren seiner eindrucksvollen Karriere kann er diesen Rat auch befolgen.
Er ist es, der in der Folgezeit andere Menschen immer wieder verletzt:
Anfängliche Naivität wandelt sich in den Jahren seines Aufstieges in Härte und auch Ungerechtigkeit gegenüber langjährigen Weggefährten. Auf seinen äußerst erfolgreichen Touren durch die USA betrügt er seine Frau, die zu Hause auf ihn wartet und sehr wohl darüber bescheid weiß, mit verschiedenen Backgroundsängerinnen. Die Rassentrennung ist ihm zu Gunsten seines Verdienstes zunächst total egal.
„Ray“ geht also recht hart mit seinem Protagonisten ins Gericht und unterscheidet sich damit wohltuend von anderen filmischen Biografien, die sich in Lobhudeleien über ihren Helden ergehen.
Aber der Film zeigt auch das Genie „Ray Charles“. In einer Szene ist der Manager eines Clubs wütend, weil die Band das Programm zu früh abbrechen will. Und Ray sagt nur „Ich mach das schon.“ und fängt einfach an zu spielen. Seine Band weiß erst gar nicht, was sie tun soll und begreift langsam den neu geborenen Song, der dann auch noch ein Hit wird.
Als seine Karriere auf dem vorläufigen Höhepunkt befindet, sagt ihm seine lange verstorbene Mutter, dass der sich dennoch hat zum Krüppel machen lassen – und zwar von sich selbst! Sie sagt ihm das im Drogenrausch, denn Heroin war von Beginn an Rays ständiger Begleiter. Erst als es schon fast zu spät ist, unterwirft er sich dem harten Entzug.
Auch diese Szenen sind von beeindruckender Intensität, und zwar vor allem dank des grandiosen Spiels von Jamie Foxx, der mit „Collateral“ kürzlich schon einen Hit hatte, in der Rolle von Ray Charles.
Nicht nur in diesen Szenen spielt er wie ein Besessener. Er trägt, unterstützt von einem weithin unbekannten (mit Ausnahme von Larenz Tate, z. B. „Dead Presidents“, in der Rolle von Quincy Jones), aber ebenso exzellenten Cast, den ganzen Film. Er spielt, als ob er immer blind gewesen ist, er spielt, als ob der den Gang, die Bewegungen des echten Ray Charles inhaliert hätte, er spielt hier, womöglich ein bisschen früh, die Rolle seines Lebens.
Und er wird auch bei der kommenden Oscarverleihung ein kräftiges Wörtchen mitreden, wenn es um die Vergabe der Trophäe für den besten Hauptdarsteller geht.
Aber neben Jamie Foxx gibt es natürlich noch einen anderen Faktor, der „Ray“ wesentlich mitbestimmt: die Musik!
In jeder Szene schwitzt der Film den Blues aus. Und in jeder Szene wird deutlich, wie sehr Ray Charles seine Musik gelebt hat.
Der Soundtrack dürfte nicht nur für Ray Charles-Fans ein Leckerbissen sein.
Immer wieder wird Jamie Foxx auf verschiedenen Bühnen gezeigt, wie er großen Hits von Ray Charles performt. Diese Auftritte sind oft äußerst geschickt mit der Handlung des Films geschnitten.
In einer solchen Szene darf eine Backgroundsängerin endlich ihr Solo auf der Bühne singen. Die Szene wird immer wieder durch Sequenzen unterbrochen, in denen sich Ray und die Sängerin sehr streiten. Und während die Sängerin in der Gesangsszene ihr Lied beendet, verlässt sie wutentbrannt und endgültig die Streitszene, ihren Boss und damit auch den ganzen Film.
Aber nicht nur der Schnitt, sondern auch die Kamera unterstützt die Stimmung des Films perfekt: Die Bilder sind kräftig in den Farben, teilweise großkörnig und bewusst im Stil der jeweiligen Zeit gestaltet.
Auch die Ausstattung fügt sich wunderbar in das Gesamtbild ein.
Im Grunde gibt es an „Ray“ nichts auszusetzen, außer vielleicht die Länge.
In den 150 min schafft es der Film nicht immer, die Spannung zu halten. Ich habe mich doch einmal dabei ertappt, wie ich einen kurzen Blick auf die Uhr geworfen habe.
Aber „Ray“ ist vor allem ein sehr gelungenes, wohl sehr ehrliches, toll gespieltes filmisches Portrait eines legendären Musikers, untermalt mit seiner großartigen Musik.
So kann das Filmjahr weitergehen!
8/10