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"Die Kinder kommen wieder.
Der Wald wird schreien,
und die Herzen werden kalt sein.
Sie kommen wieder,
und dann...
und dann..."


Es geht in die Berge. Ein kleiner Ausflug in die idyllische Natur rund ums Silberhorn. Wandern, die frische Luft und den Ausblick genießen, dem Streß entfliehen, die Seele baumeln lassen. Vor einigen Jahren, im frühen Frühling ihrer Beziehung, waren Rolf (Dominic Raacke) und Rita (Barbara May) bereits einmal hier. Spazierten über die grünen Wiesen und durch die dichten Wälder, legten bei der alten, halb verfallenen Kapelle in den Bergen eine ausgiebige Pause ein, nutzten das heilige Fleckchen als Liebesnest. Vielleicht wurde ihre inzwischen sechsjährige Tochter Melanie (Romina Nowack) ja sogar damals gezeugt; zeitlich würde es in etwa passen. Leider scheint die kleine Bergtour unter keinem guten Stern zu stehen. Bei der Anfahrt umkurvt Rolf ungeschickt die geschlossene Schranke, um sich die zehn Mark Parkgebühr zu sparen, wobei sich Ritas Kaffee über ihr Shirt ergießt. Und Melanie hatte am Vorabend, als sie mit dem Rad nach Hause fuhr, eine Begegnung mit einer geisterhaften Erscheinung, welche sie widerstandslos passierte, bevor sie mit einer älteren Frau (Ortrud Beginnen) zusammenstieß, die ihr, als sie davonrannte, verwirrt und verängstigt hinterherrief: "Was ist das für ein Kind?"

Tatsächlich verhält sich Melanie, die sowieso ein aufgewecktes Mädchen ist und ihre unmittelbare Umgebung bisweilen furchtbar nervt, zunehmend seltsamer. Das Gebirge scheint sie magisch anzuziehen, anstatt umzukehren will sie weiter hinaufgehen, und obwohl sie noch nie in dieser Gegend war, scheint sie sich recht gut auszukennen. Außerdem manipuliert sie einen Wegweiser (sie dreht ihn frech in eine andere Richtung) und versteckt die Wanderkarte ihrer Eltern, woraufhin sie sich prompt verirren. Und sie stellt Fragen. Sonderbare Fragen, für ein Kind ihres Alters. Wie zum Beispiel:

"Warum bin ich auf der Welt?"
"Gibt es da oben jemanden, der auf uns aufpaßt?"
"Wo kommen eigentlich die toten Kinder hin?"


Als die Nacht hereinbricht und Rita aufgrund eines wundgescheuerten Fußes nicht mehr weitergehen kann, sucht die Familie Zuflucht in einer alten Hütte. Kurz darauf entdeckt Melanie in der Nähe ein totes, ihr frappant ähnelndes Mädchen, das offenbar vor vielen Jahren gestorben, im Gletschereis konserviert ("Im Eis gibt's keine Zeit") und eben erst wieder freigegeben wurde. Die folgenden Stunden und Tage entwickeln sich für die Drei zu einem Alptraum, zu einem Auf und Ab der Gefühle. Ein stetiges Schwanken zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Freude und Schrecken, zwischen Erleichterung und Ohnmacht.

Das Grauen kommt auf leisen Sohlen. Äußerst subtil, fast nicht bemerkbar, schleicht sich das Unheimliche ins Geschehen, wie ein heimtückischer Virus, der gesunde Zellen in kranke verwandelt. Ganz langsam wandelt sich die Stimmung, tatkräftig unterstützt vom oft seltsamen, unerklärlichen Verhalten einiger Figuren. Zwar tragen auch Erwachsene ihr Scherflein zur sonderbaren Atmosphäre bei, doch es sind vor allem die Kinder, die mit ihrem Handeln und ihren Wortmeldungen für ein zutiefst schauderhaftes, bedrückendes Flair sorgen. Die Drehbuchautoren Andy T. Hoetzel und Ralf Huettner halten sich mit Erklärungen für das Geschehen vorwiegend zurück, begnügen sich meist mit geschickten Andeutungen und stimulieren so die Phantasie des Publikums. Und Regisseur Huettner findet die richtigen doppelbödigen Bilder, um beim Zuschauer ein starkes Gefühl der Beunruhigung heraufzubeschwören. Die Berge, der Tunnel, der Wald, die Kapelle... einerseits wirkt dies alles harmlos, idyllisch und reizvoll, doch andererseits vermittelt es auch den Eindruck, als ob sich darunter gefährliche Abgründe auftun könnten, die nur auf einen günstigen Moment warten, um die nichtsahnenden Besucher zu verschlingen.

Der Fluch geizt nicht mit angenehm stimmigem Lokalkolorit, was dem Szenario eine sehr authentische Note verleiht. Auch die verschiedenen Figuren erwecken den Eindruck, aus dem Leben gegriffen und damit echt zu sein. Hoetzel und Huettner vermeiden Klischees, lassen Aberglauben, Mythen und Folklore in die Geschichte einfließen und stellen schließlich die heile Welt des Heimatfilmes so dermaßen auf den Kopf, daß man ihr Werk - wie übrigens auch den im folgenden Jahr entstandenen Sukkubus - Den Teufel im Leib - durchaus als Anti-Heimatfilm klassifizieren kann. Im letzten Drittel steigert Huettner sukzessive den Horror, schickt die Gefühle unserer Protagonisten (und auch die des Zusehers) auf eine schwindelerregende Achterbahnfahrt, in der eine gehörige Portion Traurigkeit und Melancholie mitschwingt. Ohne zu viel zu verraten... das eindringliche, in dieser Form nicht erwartbare Ende kann man nur als genial bezeichnen. In schauspielerischer Hinsicht gibt es nichts zu bemängeln. Raacke, May und Nowack glänzen mit einer erfrischenden Natürlichkeit, sodaß man rasch vergißt, daß sie "nur" eine Rolle spielen. In kleinen Nebenrollen sind außerdem der blutjunge Tobias Moretti sowie Barbara Valentin zu sehen.

Mit Der Fluch ist dem am 29. November 1954 in München geborenen Ralf Huettner, der in den darauffolgenden Jahren so unterschiedliche Filme wie Babylon - Im Bett mit dem Teufel (1991), Texas - Doc Snyder hält die Welt in Atem (1993), Voll Normaaal - Asozial und Spaß dabei! (1994), Die Musterknaben (1997), Vincent will Meer (2010) und Burg Schreckenstein (2016) drehte, ein grandioses Mystery-Horror-Drama mit mächtig großem Nachhall gelungen, welches man mit Fug und Recht als ganz großen Klassiker des deutschsprachigen Genrekinos bezeichnen kann. Tatsächlich zählt der denkwürdige Film mit zum Besten, was hierzulande je entstanden ist. Insofern ist es zu gleichen Teilen peinlich, traurig und unverständlich, wie stiefmütterlich - Der Fluch wurde bis dato weder auf Video, noch auf DVD oder Blu-Ray veröffentlicht - diese glitzernde, einzigartige Genreperle behandelt wurde - und leider immer noch behandelt wird.

"Es ist ein Land verloren,
da wächst ein Mond im Ried.
Es ist mit uns erfroren,
es glüht umher und sieht."

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