ACHTUNG ! SPOILER !
„I believe that the films of Andy Milligan are as important as the films of Andy Warhol, Paul Morrissey, Kenneth Anger or Curtis Harrington, and as worthy of serious critical Study.“ (McDonough, Seite 5)
„...during his lifetime most of [Andy Milligans] Films were dismissed as entirely incompetent.“ (1)
Zwischen diesen beiden diametralen Standpunkten bewegt sich das Meinungsbild über den Filmemacher Andy Milligan und seine Filme bei Kritikern und Publikum.
Ein Haus, irgendwo in Staten Island, New York, Anfang der 80er Jahre. Eine Frau (Deean Veeder) in einem Brautkleid und ein Mann (Chris George) in einem weißen Anzug halten sich in den Armen und Küssen sich leidenschaftlich. Dann greift der Mann nach einem Revolver und schießt der Frau in den Kopf. Anschließen richtet er die Waffe gegen sich selbst. In der Nachbarschaft bellt ein Hund.
Drei Jahre später beziehen die frisch verheirateten Carol und Jonathan Henderson (Leslie Den Dooven & Michael Chiodo) als neue Besitzer das Haus, in dem sich dieses Drama ereignet hat. Vom ersten Tag an werden die Beiden von unheimlichen Erscheinungen terrorisiert. Diverse Gegenstände des Haushalts entwickeln plötzlich ein Eigenleben, Dinge verschwinden spurlos und ein Grammophon spielt immer wieder von alleine den „Hochzeitsmarsch“. Und in der Nachbarschaft bellt ein Hund. Schließlich erscheint der Geist der getöteten Frau und attackiert die gerade erst eingestellte Haushälterin Rose (Lola Ross) mit den Worten „Get out of my house!“, als diese gerade dabei ist, den Keller aufzuräumen. Rose gerät in Panik und kurz darauf schneidet sie sich unter einem dämonischen Zwang stehend, mit einem Rasiermesser selbst die Kehle durch. Als ein paar Tage später zwei Einbrecher in den Keller des Hauses eindringen, erscheint ihnen ebenfalls der Geist der Frau und die beiden Diebe werden auf bestialische Weise getötet. Und in der Nachbarschaft bellt ein Hund. Die Unheimlichen Ereignisse häufen und sich und nachdem sich weitere Todesfälle ereignet haben, suchen Carol und Jonathan Hilfe bei einem Priester (Jack Poggi). Aber auch der Priester weiß keinen Rat, und bevor er das Haus wieder verlassen kann, wird ihm von einem durch die Luft fliegenden Küchenbeil der Schädel gespalten. Und in der Nachbarschaft bellt ein Hund. Carol und Jonathan sind nun völlig verzweifel und ratlos. Unter dem bösen Einfluss der beiden Toten stehend, wiederholen sie schließlich den Doppelselbstmord, auf dass nun vier ruhelose Seelen ihr Unwesen in dem Haus treiben werden...
Auf dem Cover der deutschen VHS-Cassette liest sich die Inhaltswiedergabe so:
„Ein junges Ehepaar – Jonathan und Carol Henderson – haben sich gerade ihr Traumhaus gekauft. Noch ahnen sie nicht, daß es zu einem Alptraum wird.
Gleich nach ihrem Einzug passiert es: der Geist der toten früheren Bewohner treibt makabren Psychoterror mit den Jungvermählten. Beängstigende Dinge erschrecken das Paar. Die Grausamkeiten steigern sich bis zu schockierenden Hinrichtungen.
Das junge Paar begreift zu spät, daß sie ihrer eigenen Bluthochzeit nicht entkommen können.“
CARNAGE ist ein dreister „Poltergeist“ Rip-Off für ganz arme!
Dieses Spätwerk, „arguably [Milligans] best movie“ (Gay: Seite 76), war einer der letzten Filme, die der Regisseur, Drehbuchautor, Produzent und Kameramann Andy Milligan realisierte. Er versuchte sich hier an einer Mischung aus Geisterhaus- und Splatterfilm, doch der ganze Spuk ging gründlich daneben. CARNAGE ist ein Z-Film reinsten Wassers, mit dem typischen Milligan Home-Movie-Touch, der sich u.a. auszeichnet durch schlechten Ton, dilettantische Ausleuchtung, muffige Dekors, winzige Sets, eine statische Kamera und Musik aus irgendwelchen Archiven. Für diesen Film hatte Milligan laut Credits immerhin einen „Interior Consultant“ engagiert, aber vermutlich war dies nur ein weiteres seiner vielen Pseudonyme. Wie dem auch sei, irgendwer hat hier jedenfalls einen lausigen Job gemacht. So haust der Ehemann, der angeblich an der Börse arbeitet, in einem etwa 4 qm großen Büro, das eher einer Rumpelkammer gleicht. Seiner Sekretärin geht es aber noch schlechter, denn sie hockt in einem düsteren Raum an einem winzigen Schreibtisch, umgeben von mehreren windschiefen Regalen, auf denen sich diverser Krempel auftürmt. In den Kellern der meisten Menschen sieht es wahrscheinlich gemütlicher aus.
Besetzt ist der Film mit gescheiterten Schauspielschülern, die depperte Dialoge aufsagen, und von denen die meisten niemals wieder in einem anderen Film mitgewirkt haben. Garniert ist das ganze öde Machwerk mit einigen billigen und vulgären Splatter-Effekten, die bestenfalls zum Lachen reizen. So wird zum Beispiel einem der Opfer der Bauch aufgeschlitzt und es quellen irgendwelche undefinierbaren, grauen Innereien heraus, die im ersten Moment aussehen wie Sauerkraut. In einer anderen Szene wird einer Frau der Kopf mit einer Axt abgeschlagen, ohne das der geringste Tropfen Blut zu sehen wäre. Später stirbt ein Mann in einer Badewanne an einem Stromschlag, als ein Radio in die Wanne fällt. Um Zeit zu schinden hat Milligan noch einen für die eigentliche Handlung absolut überflüssigen aber breit ausgewalzten Subplot um die Eheprobleme eines mit den Hauptdarstellern befreundeten Paares in den Film eingebaut. Eine „wichtige“ Rolle spielt zudem eine Hund aus der Nachbarschaft, dessen immer gleiches Gebell bis zum Erbrechen zu hören ist.
CARNAGE ist im Übrigen für Milligan ein eher untypischer Film, relativ stringent und und geradezu konventionell inszeniert. Wie in fast allen seinen Filmen sind auch in dieser Geschichte unerfreuliche familiäre Vorfälle der Auslöser für allerlei Ungemach, ist doch die Selbsttötung des jungen Ehepaares gleich zu Beginn die Ursache der weiteren Ereignisse. Im Verlauf des Films erfahren wir, dass die Frau ihr ungeborenes Kind verloren hat und später bei ihr eine unheilbare Krebserkrankung diagnostiziert wurde. Diese Schicksalsschläge waren dann auch der Grund für den gemeinsamen Suizid. Auch der Subplot beschäftigt sich mit familiären Problemen und Unzulänglichkeiten: „Face it...after the first three years, marriage get's worse and worse“, so eine Mutter zu ihrer Tochter. So konstatiert Milligans Biograph dann auch: „A Milligan family is not a happy family.“ (McDonough: 35) Alles in allem ist CARNAGE ein wirklich harter Brocken, aber dennoch der einfachste Einstieg in das dunkle Universum des Andy Milligan!
In Deutschland wurde der Film im September 1986 bei „Rainbow's Media Entertainment“ unter dem Titel ZURÜCK IN DIE HÖLLE mit einer Laufzeit von 87:57 Minuten (PAL) auf Video veröffentlicht. Synchronsprecher waren laut www.synchronkartei.de, neben anderen, Günter Clemens und Christian Tramitz. Im März 1987 wurde das Tape Indiziert und im Februar 2012 erfolgte die Listenstreichung. Im Netz (Stand: 06/2023) findet sich eine Originalfassung mit einer Laufzeit von 92:06 Minuten (NTSC). Amazon bietet eine Double Feature DVD der Firma „Frolic Pictures“ aus dem Jahre 2020 an, auf der sich die Filme CARNAGE und „Funeral Home“ befinden (Stand: 06 / 2023). Im September 2021 veröffentlichte die US-Firma „Severin Films“ unter dem Titel „The Dungeon of Andy Milligan Collection“ eine Blu-Ray-Box mit 14 Filmen von Milligan. Als Extras gibt es rund 10 Stunden Zusatzmaterial und ein Buch über Milligan mit 128 Seiten. Die Box wird bei Amazon mit rund 200 Euro gehandelt, auf der Homepage von „Severin Films“ kann man sie für 125 Dollar bestellen. (alles Stand: 06/23)
Andy „Do-it-all“ Milligan, eigentlich Andrew Jackson Milligan, Jr. (1929 - 1991) ist berühmt-berüchtigt für seine No-Budget Filme, die er seit Mitte der 60er Jahre in seiner Heimat Staten Island, New York, meist weitgehend im Alleingang drehte und auf ein unvorbereitetes Publikum losließ.
Verschiedenen Quellen zufolge hatte Milligan eine wenig erbauliche Kindheit und Jugend. Als Erwachsener war Milligan wohl nicht gerade umgänglich. Brett Wright beschreibt ihn als „...a hateful, troubled, and bitter soul.“ (1) Ähnliche Ansichten vertreten auch andere Weggefährten und Mitarbeiter des Regisseurs. Joseph A. Ziemba sah ihn als „...selfdestructive, darkly sadistic, sexually twisted, egoistic, and all together unnerving [human being].“ (2)
Milligans Karriere im Filmbusiness verlief eher untypisch. Nach seiner Militärzeit ergatterte er kleinere Rollen als Darsteller in TV-Produktionen und er begann recht erfolgreich als Kostümbildner zu arbeiten. Unter dem Namen Raffiné schneiderte er später für alle seine Filme selbst die Kostüme. Seit den frühen 60er bis in die 80er Jahre hinein war er zudem sehr engagiert und erfolgreich in Off-Broadway Theaterproduktionen in New York, u.a. bei der „Caffe Cino“ Theatercompany (1961-67). Eines Tages hatte Milligan die Gelegenheit, günstig eine 16mm Kamera zu erwerben, und der Rest ist Geschichte.
1965 realisierte er mit „Vapors“ seinen ersten (Kurz)Film, dem bis 1989 noch etwa 30 Produktionen folgen sollten. Nach seinem Film „The Ghastly Ones“ (1968) bekam er das Angebot, einige Filme in England zu drehen. Nach seiner Rückkehr in die USA gründete er 1970 eine eigene Produktionsfirma unter dem Namen „Nova“ und drehte den Film „Guru, the Mad Monk“ (1970), sein erster Film im 35mm Format. Viele von Milligans Werken wurden von William Mishkin (1908 - 1997) produziert und/oder verliehen. Mishkin begann in den 50er Jahren zunächst als Produzent / Verleiher von erotischen Filmen und produzierte laut IMDb zwischen 1953 und 1979 etwa 18 Filme. Nach CARNAGE, der von Mishkins Sohn Lew(is) Mishkin (1941 – 2001) produziert wurde, drehte Milligan noch zwei weitere Filme, ehe der homosexuelle Künstler 1991 an Aids verstarb.
Viele seiner Filme siedelte Milligan im Viktorianischen Zeitalter an (ca. 1840-1900). Fast alle waren völlig humorlos und misogyn. Vor allem Mutterfiguren kamen bei Milligan immer ganz schlecht weg: „He was raised by an unstable and manipulative alcoholic mother who left him deeply distrustful of women.“ (1) So verarbeitete er seinen Hass auf seine Mutter in seinen Filmen: „Milligan really hated his alcoholic mother.“ (3) Was seinen Filmen dabei durchweg fehlt ist eine gewisse Leichtigkeit, ein spielerischer Ansatz, sie erscheinen oft schäbig und schmuddelig, es fehlt die Selbstironie und das unfreiwillig komische Element, das etwa die Filme von Ed Wood, T.V.Mikels, Al Adamson oder Ray Dennis Steckler trotz aller Defizite genießbar macht. Die meisten seiner Filme sind todernst und böse: „Milligan's intentions were serious. He considered himself an artist.“ (1)
Laut Rob Craig zerstörte Lew Mishkin zahlreiche frühe Werke von Milligan „in a fit of maniacal loathing“ (Craig: Seite 23) Fast schon in Vergessenheit geraten, wurden etliche von Milligans Filmen während des Video-Booms in den 80er Jahren wieder veröffentlicht. In den 2000er Jahren nahm sich schließlich das US-Label „Something Weird Video“ dem Werk Milligans an und brachte einige seiner Filme in ansprechenden DVD-Editionen auf den Markt. Und schließlich publizierte Jimmy McDonough, ein Weggefährte des Regisseurs, 2001 eine hochgelobte Biographie über Milligan.
In einem Interview für „Fangoria“ sagte Milligan 1982 über seine Arbeit: „I wrote my own scripts, did my own camera work, did my own stills, fitted all my own costumes and did all the sets, basically with one or two people helping me. One person could basically do all the stuff. […] The highest budget I've ever had was $20.000, the lowest was $ 7.500. […] I never had more than five people on a set ever.“ (Fangoria, #20)
Im selben Interview erwies sich Milligan zudem als ausgesprochen prophetisch, als er verkündete: „Film, of course, will be out in another 40 years. It'll all be video. Why should we be worried about celluloid and developing and al that crap when we have video. Film will be extinct in another 40 or 50 years, except in the archives. Remember that. This will be before we hit the year 2020 or 2040. […] It won't be called filmmaking, it'll be called picturemaking or whatever. It'll look the same and people won't know the difference.“
Einige von Milligans bekanntesten Filme sind „The Ghastly Ones“ (1968), „Bloodthirsty Butchers“ (1970), „Guru, the Mad Monk“ (1970), „The Rats are Coming – The Werewolves Are Here“ (1972) und „Legacy of Blood“ (1978). Sein letzter Film war 1989 „Surgikill“.
Neben CARNAGE wurde in Deutschland bisher nur noch Milligans Film „The Filthy Five“ (1968) veröffentlicht. Der kam unter dem Titel „Alles was Erotik bieten kann“ mit einer FSK 18 Freigabe am 05.06.1970 in die Kinos. Das Original gilt inzwischen wie viele andere frühe Werke des Regisseurs als „verloren“. In der Box von „Severin“ findet sich allerdings ein rund 20 minütiger Ausschnitt aus dieser deutschen Fassung. Ob die komplette deutsche Fassung noch in irgendeinem Archiv verrottet, ist dem Autor nicht bekannt. Ronald M. Hahn schrieb zu diesem Film: „Ein Schmuddelschundi aus der Factory des amerikanischen Schnellschuß-Fabrikanten Andy Milligan.“ (Hahn: 14)
Aus der Werbung:
Wenn das Hochzeitskleid sich blutrot färbt (Video)
See household appliances slice and dice...people!
Literatur:
Jimmy McDonough: The Ghastly one: The Sex-Gore Netherworld of Filmmaker Andy Milligan (2001).
Rob Craig: The Gutter Auteur. The Films of Andy Milligan, McFarland 2013
Walter L. Gay: Andy Milligan, in: John McCarthy: The Sleaze Merchants, New York 1995
Ronald M. Hahn: Das Heyne Lexikon des erotischen Films, München 1993
1) Brett Wright: https://www.splittoothmedia.com/andy-milligan/
2) Joseph A. Ziemba: http://bleedingskull.com/a-celebration-of-hate-the-horror-films-of-andy-milligan/
3) Eric Davidson: https://pleasekillme.com/jimmy-mcdonough-andy-milligan/
Bill Landis: Fangoria #20, Juli 1982, Seite 37-39: Milligan! Andy Milligan, Ground-Breaking Goremeister from the 60's, Tells His Story
Michael Koresky: https://www.filmcomment.com/blog/queer-now-then-1965-andy-milligan-vapors/