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Jaromil Jires mit Abstand bekanntester Film dürfte wohl der 1970 entstandene VALERIE A TÝDEN DIVU sein, an dem sich exemplarisch die gesamte Misere zeigt, in der die tschechische Filmindustrie nach dem Verklingen des Prager Frühlings steckte. VALERIE A TÝDEN DIVU bedeutete für die an ihm beteiligten Künstler, fast allesamt Schlüsselfiguren der Tschechischen Neuen Welle, einen nahezu eskapistische Rückzug in Traum- und Märchenwelten, die sich einer eindeutigen Interpretationen entziehen, und viel zu offen gestaltet sind, um einen Kommentar zu den politischen Ereignissen der Gegenwart liefern zu können. Dennoch lassen sich bei VALERIE A TÝDEN DIVU die künstlerischen Stimmen der Verantwortlichen laut genug vernehmen, um den Film für mich zu einem Meisterwerk werden zu lassen, voller überschäumender Kreativität und einer Bilderflut, die ihresgleichen sucht. Nichtsdestotrotz wird VALERIE A TÝDEN DIVU oftmals als Schlussakkord der Tschechischen Neuen Welle bezeichnet, ein letztes Aufbäumen bevor die Filmschaffenden ihr Talent in mehr oder weniger gelungenen Märchenfilmen vergruben oder komplett verstummten, um erst Jahre später wieder in Erscheinung zu treten.  

Jires Weg führte ihn indes bereits zwei Jahre später zu …A POZDRAVUJI VLASTOVKY, und damit weg von der verträumten Valerie hin zu der historisch verbürgten Widerstandskämpferin Maruska Kuderiková, die als Mädchen von zarten zwanzig Jahren einer tschechischen Untergrundorganisation beitritt, die sich mittels Sabotageakten gegen die nationalsozialistische Fremdherrschaft auflehnt. In radikaler Weise bedeutet …A POZDRAVUJI VLASTOVKY eine deutliche Abkehr von Märchen und Träumen. Jires tauschte die Seerosenblätter, die singenden Mädchen, die Iltis-Vampire, die wogenden Felder und rauschenden Bächlein gegen die trostlosen Wände der Todeszelle ein, in der Maruska schon zu Beginn des Films sitzt und darauf wartet, dass das Todesurteil an ihr vollstreckt wird. Hundert Tage, das weiß sie, werden den Verurteilten normalerweise zwischen dem Richterspruch und seinem Vollzug eingeräumt, hundert Tage, die sie nutzt, um sich in ihren Erinnerungen zu versenken, lange Briefe an ihre Eltern und an sich selbst zu schreiben, und zu dem Schluss zu kommen, dass sie ihr Leben genauso noch einmal leben würde, wenn sie die Wahl hätte, es mit dem Wissen, das sie heute hat, in eine andere Richtung zu lenken. Einen deutlicheren Kontrast zu der Farbpracht und der Entrücktheit von VALERIE A TÝDEN DIVU hätte Jires tatsächlich nicht schaffen können. In …A POZDRAVUJI VLASTOVKY sind alle Farben verblasst. Kalt und von einem schmerzhaften Weiß sind die Mauern von Maruskas Zelle. Es gibt keine Hoffnung mehr: von Anfang an steht für Maruska fest, dass sie das Gefängnis nicht lebend verlassen wird, noch mehr als ihre Familie und ihre Freunde weiß sie, dass sie sterben wird, versucht vielmehr noch, ihren Angehörigen Mut zuzusprechen, akzeptiert insgeheim ihr Schicksal allerdings, und verschwindet höchstens in den poetischen, zärtlichen Worten, die sie in ihrer  Zelle verfasst, und in den Erinnerungsbruchstücken, die den Film wie Splitter eines früheren Lebens durchziehen.  

Auf den ersten Blick scheint …A POZDRAVUJI VLASTOVKY ein relativ regimetreuer Film zu sein, der darauf abzielt, Heldenstilisierung zu betreiben, diesmal eben im Falle eines jungen Mädchens, das für ihr Vaterland ohne mit der Wimper zu zucken und mit reinem Herz in den Tod ging, erst wenn man einen Schritt zurücktritt, meint man indes zu erkennen, dass das Werk auch einen wenig schmeichelhaften Kommentar auf die Zustände sein könnte, der die Kunst im Tschechien des Jahres 1972 ausgesetzt war, eine Reflexion über das, was mit den Künstlern der Tschechischen Neuen Welle geschah und geschieht, die sich ja, ähnlich wie Maruska, gegen eine von ihnen als falsch empfundene Gegenwart auflehnten, und dafür einen hohen Preis zahlen mussten: zwar wurde ihnen nicht der Kopf abgeschlagen, jedoch zumindest der Mund gestopft. Verständlicherweise gibt es in …A POZDRAVUJI VLASTOVKY wenig zu lachen. Leicht ist hier gar nichts: eine bedrückende Schwere bestimmt den Film, der in seinen Gefängnisszenen ein klaustrophobisches Unbehagen auslöst, das man kaum in Worte fassen kann. Monoton verlebt Maruska ihre Tage. Ihre Wärterinnen behandeln sie mehr wie einen leblosen Gegenstand als einen Menschen. Kurze Momente des Glücks gibt es für sie nur, wenn sie mit einigen Mitgefangenen zusammen ist. Bezeichnend ist hierbei die Szene, in der Maruska eine neue Zellennachbarin bekommt, ein tschechisches Mädchen wie sie, und sich die beiden plötzlich innerhalb von Sekunden in die halben Kinder verwandeln, die sie eigentlich noch sind, trotz der Kargheit um sie herum kichernd auf dem Boden sitzen und Lieder aus ihrer Heimat zu trällern beginnen, was im Kontext fast noch trauriger wirkt als die Szenen, in denen sich Maruska der Trostlosigkeit völlig hingibt.  

…A POZDRAVUJI VLASTOVKY ist in seinen Gefängnisszenen ein monotoner Film. Es gibt keine Spannung, keine Entwicklung. Maruska weiß, dass sie sterben wird, und wartet nur auf den Moment, wann es endlich so weit ist. Kein Zuschauer wird erwarten, dass irgendein Zufall sie am Ende doch noch vor der Hinrichtung bewahrt. In der Welt von …A POZDRAVUJI VLASTOVKY existiert kein gnädiges Schicksal mehr, keine Götter, die einen in letzter Sekunde vor dem Schafott  retten. Die Zeit, und das ist zumindest ein Aspekt, den man auch in VALERIE A TÝDEN DIVU findet, ist dabei völlig ausgeschaltet. Nur wenige Male zeigen uns kurze Einblendungen, an welchem Datum nun welche Szenen gerade stattfindet, zum Großteil kann man über die Chronologie der Ereignisse nur rätseln. Wo Valerie außerhalb von Zeit und Raum stand, sich in ihrer persönlichen Traumwelt frei bewegen und innerhalb von Sekunden die Szenerien wechseln konnte, ist der Raum für Maruska begrenzt, nur ihre Zelle und der Hof, vielleicht auch mal das Besucherzimmer des Gefängnis stehen ihr offen, weshalb sie sich umso mehr in die Zeit zu stürzen scheint, sie förmlich aus dem Gleichgewicht bringt, was dann zu jenen Szenen führt, die denen in der Todeszelle gegenüberstehen, nämlich Erinnerungen, Rückblenden, die Aufschluss darüber geben, wer Maruska vor ihrer Verhaftung war, wie ihr Leben aussah und wie es soweit kommen konnte, dass sie mit zwanzig Jahren ihren Kopf verlieren soll. In diesen Vergangenheitsszenen hat sich Jires, was die Montage betrifft, dann regelrecht ausgetobt, und lässt erneut einen leichten Verweis auf die ebenso surreale, verrückte Schnitttechnik zu, die VALERIE A TÝDEN DIVU auszeichnet. Auch hier spielt die Zeit keine große Rolle. Zwar kann man einige Episoden relativ leicht zeitlich ein- und zuordnen, bei andern wird dies einem schier unmöglich gemacht. Oftmals rein assoziativ reiht Jires Momente aus Maruskas bisherigem Leben aneinander, zeigt sie in Freiheit auf dem Hof ihrer Familie, wie sie Kontakte zur Resistance knüpft, im Streit mit ihren Eltern, die wegen ihren Aktivitäten um ihr Leben fürchten, und vermischt das alles mit später stattfindenden Szenen wie ihrer Untersuchungshaft, wo zwei deutsche Beamte alle Tricks anwenden, um ihr die Zunge zu lockern und von ihr die Namen der restlichen Verschwörer zu erfahren, von gutem Zureden bis hin zu Schlägen, Gesprächen mit ihrem Verteidiger und schließlich ihrer Verurteilung. All diese, meist ziemlich kurzen, flüchtigen Szenen, verteilte Jires über den gesamten Film hinweg, sodass Maruskas eintönige Gefangenschaft immer wieder von ihnen unterbrochen und kontrastiert wird. Sanft gemahnt Jires auf optischer Ebene an seinen Vorgängerfilm, wenn die Kamera mehrmals lange auf summenden Bienenstöcken verweilt, und könnte die Differenzen zwischen beiden Welten nicht besser zum Ausdruck bringen, wenn er danach sofort wieder in Maruskas karge Zelle schneidet.  

Maruska steht logischerweise völlig im Mittelpunkt des Films, auf sie konzentriert sich die gesamte Handlung, was man allein schon daran sieht, dass häufiger eine Handkamera eingesetzt wird, die ihre Perspektive einnimmt, aus ihrer Sicht heraus schildert wie sie in bestimmten Situationen die Welt wahrnimmt. Dargestellt wird Maruska von Magda Vásáryová, die schon in zwei meiner Lieblingsfilme, Jakubiskos VTACKOVIA, SIROTY A BLAZNI und Vlácils MARKETA LAZAROVÁ die weibliche Hauptrolle spielte, und auch hier eine brillante Leistung bringt, die man gar nicht genug beklatschen kann. Innerhalb von Sekunden schafft sie es Maruska die Facetten wechseln zu lassen. Im einen Moment wirkt sie noch wie eine reife, weise Frau, die sich mit ihrem Schicksal abgefunden hat, im nächsten wird sie zu einem jungen Mädchen, aus dem ein hohes Lachen heraussprudelt, und das sich benimmt, als gäbe es nichts Schlechtes auf der Welt. Ich weiß nicht, ob es von Jires beabsichtigt war oder ob es sich dabei um ein natürliches Symptom eines solchen Films handelt, aber Maruska erfüllt auch eindeutig die Rolle einer Heiligen. Ganz getreu der Tatsache, dass eine gottlose Ideologie wie der Kommunismus sich seine Märtyrer eben in den eigenen Reihen sucht, wird Maruska in mehreren Szenen mit schwer fassbaren, aber dennoch spürbaren religiösen Konnotationen aufgeladen. Dass es sich bei ihr um keine christliche Heilige handelt, zeigt sich deutlich daran, dass sie noch kurz vor ihrer Hinrichtung das Gespräch mit einem Priester ablehnt. Sie hat sich nicht aufgrund eines Glaubens, eines Gottes gegen die Nazis aufgelehnt, sondern aus viel tieferen, moralischeren Motiven, die der Film allerdings nie konkret anspricht. Im Grunde wird nie richtig deutlich, weshalb Maruska sich der Widerstandsgruppe anschloss. Vaterlandsliebe, Nationalstolz werden ihr nie explizit zugesprochen. Sie scheint eher ein unbestimmtes Unbehagen dazu bewegt zu haben, Kleinigkeiten, ein diffuses Gefühl, diverse Beobachtungen. Einmal sieht man sie am Bahnhof ihrer Heimatstadt wie sie einigen deutschen Soldaten zuschaut, die offenbar einen Fuchs einfingen und ihn wie eine Marionette mit einer Schnur, die sie ihm um den Hals wickelten, gegen seinen Willen tanzen lassen. Mehr als diesen Blick, den Maruska auf die Besatzer wirft, liefert der Film nicht an Erklärungen. Bei den endlosen, zermürbenden Verhören nimmt Maruska dann alle Schuld auf sich, nennt nicht nur keine Namen, sondern behauptet, sie allein habe sämtliche Aktionen durchgeführt und geplant. Dreyers PASSION DE JEANNE D’ARC ist nicht weit, wenn Maruska am Ende zumindest teilweise die Haare abgeschnitten werden. Als Andenken für ihre Eltern legt sie in einer herzzerreißenden Szene das Bündel zu ihren Halbseligkeiten. Bis zum Schluss bewahrt sie ihre Ruhe. Eine emotionslose Handkamera folgt ihr wie sie in den finsteren Raum gebracht wird, wo sie hingerichtet werden soll. Das Bild versinkt in Schwarz. Für Valerie gab es immerhin noch die Möglichkeit, dass sie auf ihrem Bett mitten im Wald in einer besseren Welt aufwachen könnte, für Maruska sperrt nur die Finsternis ihr Maul auf, um sie zu verschlingen.  

A POZDRAVUJI VLASTOVKY ist auf seine Art ein großer Film, bewegend und berührend, wenn auch konventioneller und weniger innovativ als das, was Jaromil Jires zuvor drehte. Dennoch übersetzt auch er, wenn auch in schwächerem Maße, die pure, überschäumende Kreativität der Tschechischen Neuen Welle, wie auch beispielsweise Juraj Herzs MORGIANA, unter veränderten Bedingungen in einen neuen Kontext. Wer sich nicht davon abschrecken lässt, dass das hier zutiefst depressive, traurige Kost ist, sollte sich umgehend auf die Suche nach diesem seltenen Film machen.

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