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Es ist nicht einfach, jung zu sein. Besonders dann nicht, wenn man ein verzogener, modebesessener Fratz ist. Oder, wenn man als Mitglied einer knallharten Motorradgang die Schmerzen enttäuschter Liebe entdeckt. Kamikaze Girls portraitiert zwei einsame Mädchen, die beste Freundinnen werden, weil sie anders sind als andere. Tetsuya Nakashimas Kultfilm ist ein eklektischer, zuckersüss-kitschiger Lobgesang auf die Exzentrik.

Momoko Ry?gasaki (Ky?ko Fukada) liebt die mit Rüschen besetzten Kleider des Lolita-Stils so sehr, dass sie mithilfe dreister Lügen regelmässig das Konto ihres Vaters (Hiroyuki Miyasako) plündert. Sie hat keine Freunde und vertreibt sich die Zeit lieber mit Tagträumen über Frankreich im Zeitalter des Rokoko. Ausser Mode interessiert sie rein gar nichts. Als sie, um an  weiteres Geld zu kommen, Papas Versace-Plagiate verscherbelt, trifft sie auf Ichigo Shirayuri (Anna Tsuchiya), eine gewalttätige Motorradfahrerin mit losem Mundwerk. Trotz ihrer Verschiedenheit knüpfen die beiden enge Bande und werden als Team unschlagbar.

Kamikaze Girls ist kein Film, den man ohne Schmunzeln „intellektuell anspruchsvoll“ nennen könnte. Er erzählt die altbekannte Geschichte zweier Aussenseiter, die zu sich selbst finden müssen. Doch wird diesem Plot so rotzfrech und fantasievoll zelebriert, dass man ihm sofort um die Arme fällt. Sowohl Momoko als auch Ichigo ähneln eher Mangafiguren denn Menschen aus Fleisch und Blut. Ichigo verteilt ständig Kopfnüsse, und Momoko ist ein vor sich hin säuselndes Püppchen, das man im realen Leben wohl nicht ausstehen könnte. Im Film aber funktionieren diese Charaktere, gerade eben weil sie so unfassbar albern und überzeichnet sind. Hinzu kommt, dass Fukada und Tsuchiya ihre Rollen mit offensichtlicher Freude ausfüllen. Overacting? Ja, schon. Ein bisschen. But that‘s part of the fun.

Noch alberner als die Charaktere sind nur noch die Gags. Der Slapstick folgt der Logik eines Comics; in einer Szene kotzt Momokos Mama ganze Eimer gelber Grütze auf die Strasse – kurz bevor sich Momokos Papa in sie verliebt, natürlich. Kamikaze Girls ist voll von solch dämlichen Einfällen, über die man normalerweise den Kopf schütteln würde. Dazu kommt man in diesem Film aber nie, da er stets neue Absurditäten auftischt, von denen man gar nicht weiss, wie man sie zu verdauen hat, ausser mit einem Kichern. Ich habe den Film schon viele Male gesehen, und noch immer kriege ich fast keine Luft mehr vor Lachen. Gewiss ist dafür ein etwas kruder Humor vonnöten. Jedenfalls ist für diesen Streifen die Bezeichnung „Kultfilm“ mehr als nur angebracht.

Kamikaze Girls ist schon deswegen bezaubernd, weil man trotz vorhersehbarem Plot nie weiss, was man in der nächsten Szene zu sehen bekommt. Das Ziel ist gesetzt, doch der Weg dahin scheint variabel, fast schon beliebig. Freudig schweift das Drehbuch ab in Exkurse, Flashbacks und Vorwegnahmen – hin und wieder gibt‘s gar einen kleinen Animationsfilm zu bewundern. „Damit den Kindern nicht langweilig wird“, meint Momoko. Da braucht sich die Protagonstin allerdings keine Sorgen zu machen, denn wenn ihre Geschichte eines nicht ist, dann langweilig. Glänzt dieser Film also vor allem mit den Tugenden des Trashs? In gewisser Weise, ja. Formal gesehen ist Kamikaze Girls jedoch überraschend kompetent. Regie führte Tetsuya Nakashima, der mittlerweile mit dem überstilisierten Thriller Confessions auf sich aufmerksam gemacht hat. Allerdings merkt man schon bei Kamikaze Girls, dass hier ein Mann am Steuer ist, der sein Handwerk versteht. Obwohl der Film eine stark eklektische Natur hat, fällt er an keiner Stelle auseinander, was vor allem daran liegt, dass aller Absurdität zum Trotz eine Geschichte erzählt, eine Botschaft vermittelt wird. Letztlich geht es um die abgedrehte Freundschaft zwischen Momoko und Ichigo, die in den Händen von Nakashima erstaunlich glaubwürdig rüberkommt. Wie durch ein Wunder schafft er es, in dieses Chaos von einem Film selbst melancholische Akkorde unterzubringen, die sogar harmonisch klingen. Nur eine Stelle, kurz vor dem Finale, zieht sich etwas in die Länge. Aber das ist verzeihbar, ansonsten wäre mein Kopf wohl vor lauter Awesomeness explodiert.

Auch der Look des Films grossartig. Masakazu Atos Kamera fängt die schrillen Rummelplatz-Farben des Films mit wunderbaren, schwebenden Bildern ein. So wird der Streifen auch optisch zu einer Freude. Kurz und gut: Eigentlich sollte für Kamikaze Girls sofort einen festen Platz in der Liste der besten hundert Filme aller Zeiten gebucht werden. Direkt neben 2001: A Space Odyssey und The Godfather. Okay, okay, war nur‘n Scherz. Wird ja eh nie passieren. Und es ist besser so. Da oben im Olymp würden sich die Kamikaze Girls ja doch nur langweilen.

Abschliessend eine persönliche Notiz: Es war dieser Film, der mich für das japanische Kino erwärmt hat. Er erst hat mir die Augen dafür geöffnet, dass es anders geht, als Hollywood – und auch anders, als zähes Arthouse. Deshalb mag meine Begeisterung teilweise der Nostalgie geschuldet sein. Dennoch verleibe ich mit einem Imperativ für alle Freunde des abgedrehten Kinos: Schaut euch diesen Film an! Bevor man dieses Feuerwerk von einem Meisterwerk nicht gesehen hat, hat man nicht richtig gelebt.

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