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Sechs Regisseure haben sich in PARIS VU PAR… zusammengefunden, um in sechs Episoden ihre eigene Sicht auf die Stadt der Liebe preiszugeben. Wobei der Titel aber eigentlich irreführend ist, da sich jede Episode (bis auf die sechste) jeweils nur mit einem bestimmten Gebiet von Paris befasst, und selbst da erfährt der Zuschauer nicht viel über die Stadt an sich. Im Grunde handelt PARIS VU PAR… nicht von Paris, es ist keine Dokumentation, kein Essayfilm, kein cineastischer Reiseführer. Jede Episode erzählt eine in sich geschlossene, unabhängige Geschichte, die sich jeweils nur eines gewissen Hintergrunds bedient, der eben aus einem Stück der französischen Hauptstadt besteht. 

SAINT-GERMAIN-DES-PRÉS heißt die erste Episode von Jean Douchet und spielt ebendort. Eine junge Amerikanerin, die sich zum ersten Mal in Paris befindet, gerät an einen jungen Mann, der in ebenjenem Boulevard eine Dachwohnung hat, und verbringt die Nacht bei und mit ihm. Die Episode beginnt am nächsten Morgen. Der junge Mann hat verschlafen und ist nun in Eile, denn in wenigen Stunden muss er ein Flugzeug nach Südamerika besteigen. Verzweifelt versucht er das Mädchen, ohne ihm den wahren Grund verraten oder unfreundlich wirken zu wollen, aus seinem Appartement herauszukomplimentieren. Schließlich muss er die Karten doch offenlegen und die Amerikanerin verlässt ihn wütend darüber, dass er ihr nicht schon am Abend zuvor klarmachte, dass es für sie nur eine Nacht geben wird, da er ab dem nächsten Tag für Monate das Land verlässt. Sie trifft später am Tag einen zweiten jungen Mann, der sie recht aufdringlich und wohl trotzdem ihren Geschmack treffend anflirtet, und erklärt sich bereit, ihm zu sich nach Hause zu folgen. Nicht wenig überrascht ist unsre Heldin als sich sein Appartement als das entpuppt, in dem sie die letzte Nacht verbracht hat. Doch die Überraschungen enden damit noch nicht…Jean Douchets Beitrag versprüht ein Flair, das man heute zwangsläufig mit der Nouvelle Vague assoziiert.
 
SAINT-GERMAIN-DES-PRÉS ist freies Kino, durchzogen von einer Stimmung wie man sie beispielsweise aus Godards À BOUT DE SOUFFLE kennt. Sämtliche Dialoge wirken improvisiert und überhaupt beschleicht einen der Eindruck, die Kamera befinde sich versteckt mitten unter den Personen und würde ungefiltert alles aufzeichnen, was sie gerade tun. Dass die Episode zudem stellenweise außerordentlich witzig ist, trägt nur zu dem mehr als positiven Gesamteindruck bei, den sie hinterlässt. 

Noch besser wird es in GARE DU NORD, inszeniert von Jean Rouch, eine Episode, bei der es sich, meiner Meinung nach, schlicht um ein Meistwerk handelt. Scheinbar ohne einen Schnitt folgt die Kamera der weiblichen Hauptperson, die zu Beginn mit ihrem Freund (Barbet Schroeder in einer seiner wenigen Schauspielrollen) in ihrer gemeinsamen Wohnung beim Frühstück sitzt. Kleinere Auseinandersetzungen und Streitereien scheinen inzwischen zum Alltag des jungen Paars zu gehören. Sie beklagt sich über den Lärm einer Baustelle direkt vor dem Fenster, er nimmt ihre Klagen nicht ernst, und das Gespräch, das sie führen, hangelt sich eigentlich von einem Brandherd zum nächsten, nur einmal blitzt kurz zwischen ihnen die Liebe auf, die sie eigentlich empfinden, jedoch wohl nur noch ein Relikt früherer Tage ist. Sie sagt, dass sie ihn immer weniger liebe je näher sie ihn kenne. Der Alltag sei es, der ihre Liebe zerstöre. Er entgegnet, dass er sie mit jedem Tag mehr liebe, dass jedes Geheimnis, das er von ihr kennt, ihn in seiner Liebe bestärkt. Alles endet in einem finalen Streit, der sie aus der Wohnung treibt. Draußen auf der Straße begegnet sie dann einem Fremden. Er fragt sie schnell unverblümt, ob sie mit ihm ein Wagnis eingehen wolle. Was halte sie davon, wenn sie einfach zum Flughafen fahren und dort Tickets für die erstbeste Maschine kaufen würden. Es sei alles möglich, betont er. Und außerdem habe er sich heute entschlossen, Selbstmord zu begehen, und nur sie sei es, die ihn eben davon abgehalten habe. Das Mädchen jedoch verneint sein Angebot, mit ihr aus dem Alltag auszubrechen…

GARE DU NORD ist wirklich großartig. Hier stimmt von den Schauspielern, der Inszenierung (vor allem die ununterbrochene Kamerafahrt von der Wohnung bis zu der Brücke, wo der Film endet) und die ziemlich überraschende und schockierende Schlusspointe tatsächlich alles.  

RUE SAINT-DENIS kann da nicht ganz mithalten, ist allerdings auch alles andere als schlecht. Jean-Daniel Pollet zeigt eine ältere Prostituierte, die sich bei einem Kunden zu Hause einfindet. Dabei betont sie, dass das nicht der Normfall sei, nur sähe ihr heutiger Freier so harmlos aus. Und damit hat sie Recht. Ihr Gastgeber wirkt wie ein verklemmter Buster Keaton, der sich nicht so recht traut, bei der Dame zur Sache zu kommen. Daher wird erstmal gekocht. Man isst Spaghetti und die Prostituierte führt einen endlosen Monolog, in dem sie in einem mütterlich-belehrenden, teilweise auch leicht spöttischen Ton auf den Mann einredet, der sich das schweigend gefallen lässt, wobei man sowohl Mitleid als auch Amüsement dem Mann gegenüber verspürt, der einfach nur mit ihr schlafen möchte und es nicht wagt, ihr das unverblümt mitzuteilen. Die Zeit vergeht mit unzähligen banalen Äußerungen ihrerseits, und schließlich liegen sie beide auf dem Bett, wo sie in einer Tageszeitung blättert, er genervt daneben. Als sie sich nach Stunden des Hinhaltens endlich dazu entschließt, ihn heranzulassen, endet die Episode. 

Die nächsten Episoden habe ich als nicht mehr ganz so gut empfunden. Die von Eric Rohmer ist etwas verworren und wohl absichtlich konfus gehalten. PLACE DE L’ÉTOILE handelt von einem Mann, der jeden Tag die gleiche Strecke zu dem Bekleidungsgeschäft zurücklegt, in dem er arbeitet. Viel Zeit wird darauf verwendet, ihn in alltäglichen Situationen zu beobachten, wobei Rohmer sich auch gerne dem allgemeinen Verhalten von Parisern gegenüber Verkehrsampeln zuwendet. Eines Tages aber mündet der tägliche Spaziergang des Helden der Geschichte in einer recht absurden Szene, in der er einen vermeintlichen Mord mit einem Regenschirm begeht… 

Godards Episode, MONTPARNASSE-LEVALLOIS, die mich einigermaßen enttäuschte (wie übrigens die meisten Beträge, die er in den 60ern zu solchen Episodenfilmen lieferte), basiert auf der Geschichte, die Anna Karina in UNE FEMME EST UNE FEMME von Jean-Paul Belmondo in der Restaurantszene erzählt wird, und hat als Protagonistin ein Mädchen, das mit mehreren Männern schläft und sie allesamt betrügt, worauf sie, als die es herausfinden, gleich zweimal davongejagt wird. 

Claude Chabrol indes widmet sich einem seiner Lieblingsthemen: das Grauen versteckt unter einer gutbürgerlichen Fassade und der Moment, wenn es zum Vorschein kommt. In LA MUETTE, die einzige Episode, die im Titel nicht Bezug auf einen Teil Paris nimmt, geht es um einen Jugendlichen, der seines verlogenen, scheinheiligen Elternhauses überdrüssig ist. Die Eltern interessieren sich kaum für ihn, der Vater (dargestellt von Chabrol selbst) verirrt sich öfters in das Bett des Dienstmädchens, was die Mutter nicht im Geringsten zu kümmern scheint. Um die endlosen Streitereien, die tagaus tagein das Haus erfüllen, nicht mehr hören zu müssen, stopft sich der Junge irgendwann Wattebäusche in die Ohren. Die Welt versinkt in der titelgebenden Stille. Was wiederum zu einer Katastrophe führt…

LA MUETTE ist durchzogen von einem zynischen Humor, der einem das Lachen im Halse stecken bleiben lässt. Chabrol ist brillant darin, die Familie auf stille, dezente Weise zu sezieren und einen den Ekel des Jungen hautnah spüren zu lassen. Das Ende wiederum entlässt den Zuschauer mit einer nachhaltigen Ohrfeige aus dem Film. 

PARIS VU PAR… lohnt es sich allein wegen der meisterhaften Episode von Jean Rouch zu betrachten. Auch die Beiträge von Claude Chabrol und Jean Douchet sind alles andere als schlecht. Gerade die Werke der beiden renommiertesten und bekanntesten Regisseure, Godard und Rohmer, fallen meiner Meinung nach etwas ab, sind jedoch unterhaltsame Ergänzungen in einem Film, den ich für eine der besten der unzähligen Episodensammlungen der 60er halte.

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