Review

 "Polar“ – ein Vergleich
POLAR: Ein Neo-Noir-Film aus dem Jahr 1983, der die meisten Klassiker des Genres in den – buchstäblich – Schatten stellt.
Wer glaubt, düstere Film Noirs zu kennen, den wird POLAR eines besseren belehren.
Nicht, daß die Menschen in der POLAR-Welt überdurchschnittlich düster sind. Alles ganz normal: Ein verschuldeter Detektiv ohne Aufträge, Karriere gescheitert, genervt von alten Bekannten (eigentlich von allen Leuten), der gerade sein trauriges Schicksal akzeptieren muß, Beruf und Paris verlassen und als Versager zurück in sein heimatliches Kuhdorf, an Mutters Rockzipfel, kehren muß – mit dem Zug, denn Auto kann er sich nicht leisten; seine schwerhörige Mutter am Telefon versteht ihn nicht. Dann ein abgehalfterter Reporter, eine Art Alkoholiker zwischen Bergen alter Zeitungen und Geschichten. Ein schwabbeliger Billigpornoproduzent mit Doppelkinn und widerstrebender Darstellerin (gespielt, haha, vom oberprominenten Regissuer Claude Chabrol). Ein glückloses Mädchen, deren Leben stagniert, seit sie mit 16 in die Stadt kam - jetzt wurde auch noch ihre Mitbewohnerin ermordet. Ein weinender Rolls-Royce-Besitzer, der seine Verhandlungen im regnerischen Wald durchführt und sich im Auto rasiert. Dilettanten, die mühsam überleben.
Auch die Geschichte bewegt sich innerhalb der bekannter Konventionen: völlig verwirrend gibt es Mord aus enttäuschter, hoffnungsloser Liebe, eine verquere „Liebes“-Affäre und konfuse Gangster, die eine undefinierbare Nippesfigur jagen (eine Art MALTESER FALKEN).
Doch werden all diese „normal trüben“ Ingredenzien dermaßen automatisiert, erlahmt, depressiv und ohne Energie oder Elan gezeigt, daß ein Kriminalfilm ohne Aufregung entstanden ist. Geradezu ein Widerspruch in sich: Ein Krimi, zwar mit den äußeren Elementen, aber ohne die Zutaten, die einen „Krimi“ in der Regel definieren: Ohne Spannung, Abenteuer, Dramatik. Und auch ohne formale Tricks, die harten Schwarzweiss-Kontraste im klassischen, oder die Werbefilmdüsternis im modernen Film Noir. POLAR ist so banal-existenzialistisch, daß ich ihn geradezu als Essenz oder Maßstab für „düster“ bezeichnen möchte.
Denn wenn eine „düstere“ Geschichte (TOUCH OF EVIL oder BRAZIL fallen mir da ein) lebhaft, ideenreich, mit Tempo und inszenatorischen Gags und Gimmicks erzählt wird, in einer phantastischen, fantasievollen Umgebung, mit Nachdruck und Dramatik, dann konterkarieren die Mittel die Geschichte. Dann hinterläßt sie nicht den tiefen Eindruck, den POLAR mit seiner scheinbar kunstlosen, ungekünstelten Inszenierung schafft, denn POLAR beherrscht die hohe Kunst, kunstlos zu wirken, kunstlos ein Bild zu zeichnen, das noch nicht einmal mehr als „melancholisch“ genossen werden kann, nämlich ein ungeschöntes Bild von Vergeblichkeit, Sinnlosigkeit, Haltlosigkeit, Entmutigung.
POLAR schuldet das vor allem seinem Helden = Detektiv, „Eugene Tarpon“ mit Namen (*), der dermaßen unlustig, abgeschlafft und schlapp ist, daß es den Betrachter fast körperlich schmerzt. Weil er einem ja doch sympathisch ist. Das bringt einen fast schon wieder zum Lachen, wie eine böse, traurige Satire.
TARPONS Selbstdarstellung zufolge ist Schlafen und Dösen seine Hauptbeschäftigung. Nicht daß er es genießt: Er erzählt es nur. Und man sieht, wie schwer ihm Bewegungen fallen. Seine Wohnung ist so deprimierend klein, daß jeder Fleck mehrere Zwecke erfüllen muß: Selbstredend dient sie tagsüber als Büro, das Bett wird zur Couch, der Eßtisch zum Schreibtisch, die Duschwanne macht, hochgeklappt, der Eßecke Platz. Zum Glück hat er ohnehin nichts, was er dort tun müßte. So soll Abfall im Papierkorb eventuellen Besuchern getane „Arbeit“ signalisieren. Als Tätigkeit bleibt ihm nur, durch Wohnblocks zu streunen und lustlos Werbung für seine Detektei in Briefkästen zu werfen. Ein Hausierer, der noch nicht einmal Klinken putzt.
Auch als er dann einen „Fall“ hat (wieder so ein Krimi-Element) wird es kaum besser: Das hübsche Mädchen (= seine Auftraggeberin; noch so ein „Element“) kickt ihm zwischen die Beine. Beim Einkaufen (zu Fuß) belästigt ihn ein ungeschickter Gauner; er muß ohne Einkaufstüte heim. Andere Gangster lassen ihn im Wald stehen: Er muß per Anhalter heim.
Sogar laut und deutlich zu sprechen, ist ihm zu anstrengend: Mehr als ein müdes Flüstern hört man kaum von ihm. Er klingt und wirkt, als suche er ständig nach Abgang oder Versteck. Die (wie er uns im Off gesteht) schönste Frau, die er je gesehen hat, muß ihm unglaublich lang zureden, bevor er auf ihre Annäherungsversuche eingeht; erst mit ihrem dritten Kuß entlockt sie ihm eine Reaktion.
Gerade diese Beziehung erscheint wie ein Abgesang, wie eine Persiflage (doch beileibe keine lustige!) auf die gewohnten Mann-Frau-Geschichten. Doch, ja, irgendwie scheint die Heldin als „Femme Fatale“ den Mann manipulieren zu wollen; ja, irgendwie scheint der Held ein Mann zu sein (wegen seiner ständigen Bartstoppeln), der die schöne Frau beschützen will. Und doch schafft die Frau nicht zu verführen, schafft der Mann nicht männlich-viril-aktiv zu sein. Und ihrer Beziehung fehlt jeder Antrieb, jede Begeisterung, jede Motivation oder Dramatik, die „normale“ (Detektiv-)Filme kennzeichnen (selbst wenn die Helden „abgewrackt“ daherkommen wie SCHIMANSKI oder Deckard in BLADE RUNNER).
Natürlich unternimmt Tarpon auch nichts gegen Verhaftung seiner Geliebten; wie im ganzen Film bleibt er ohnmächtiger Betrachter des Geschehens - das übrigens selbst merkwürdig antriebslos wirkt. Sogar die einzige Schießerei findet tölpelhaft statt, meist im Off; mit ihren umfallenden Opfern erinnert sie an den frühen Godard, z.B. DIE KARABINIERI.
Vielleicht ist es Tarpons Passivität, die ihn so macht- und kraftlos bleiben läßt. Aber vielleicht ist es „Das Leben“. (Und natürlich nervt ihn seine Mutter.)
Nur in Momenten von Lebensgefahr wird er aktiv, schlägt einmal einen jungen Burschen („aus Angst“, wie er gleich darauf im Off-Kommentar enthüllt), einmal einen revolverschwingenden Entführer, dann herrscht er die Frau an, ihn endlich zu entfesseln (in dieser Szene ist er einmal auch körperlich gefesselt, nicht nur seelisch). Lästige Pflichten.
So weit, so unscheinbar. Doch die Musik von Karl-Heinz Schäfer erhebt den Film zum Kunstwerk, sie spielt die Hauptrolle, sie trumpft als einziges Element auf; in anderem Zusammenhang könnte sie mit ihrem Nachdruck nerven, doch in diesem leerstehenden Film paßt die Kakophonie zur trüben Stimmung. Sie fügt der ungemütlich realistischen Umgebung, die unverstellt, ungewürzt und banal erscheint, den abschließenden Kommentar hinzu, der POLAR endgültig zu einem nihilistischen Meisterwerk werden läßt.

(*) „TARPON“ ist ein Fisch. Er trägt einen Fischnamen. Auch in BLADE RUNNER wird Deckard übrigens von seiner Ex-Frau als „kalter Fisch“ diffamiert. NB: Zum Fisch TARPON schreibt http://www.fliegenfischer-forum.de/poon.htm :„Seit über 20 Mio. Jahren hatte die Evolution keinen Einfluß mehr auf den TARPON. Den Azteken war der Fisch heilig und wurde als Gottheit verehrt.“ Auch unser Detektiv erscheint kaum noch beeinflußbar, berührbar.
NB: auch seine Geliebte heißt „Charlotte le Dantex“. Hiesse sie „Dentex“, so hätte sie auch einen Fischnamen, nämlich „Zahnbrasse“. Nun, so hat sie aber keinen Fischnamen.

Details
Ähnliche Filme