Review
von Alex Kiensch
Ein harter Film über ein unbequemes Thema: Der etwa 30-jährige Fotograf Jeff nimmt die 14-jährige Hayley mit nach Hause, die er im Internet kennen gelernt hat. Sie unterhalten sich, lachen zusammen, trinken ein wenig. Dann ein Blackout. Als Jeff wieder zu sich kommt, ist er gefesselt und Hayley durchsucht seine Wohnung, um Beweise dafür zu finden, dass er ein Pädophiler ist. Für Jeff beginnt ein auswegloses Martyrium.
Schon in den ersten Minuten vermag "Hard Candy" den Zuschauer atemlos an den Bildschirm zu fesseln und bis kurz vor Ende erhält er diese intensive Spannung pausenlos aufrecht. Das liegt vor allem an zwei Dingen: Einerseits spielen die beiden Hauptdarsteller dieses über weite Strecken auf zwei Personen reduzierten Kammerspiels ihre Rollen mit ungeheurer Überzeugungskraft. Besonders Ellen Page als dämonische Peinigerin und selbst ernannte Rächerin verstört mit ihrer Darstellung zutiefst.
Zum anderen ist der nach etwa dreißig Minuten einsetzende Storytwist einer der originellsten des Thriller-Genres. Schlagartig werden hier die Rollen komplett vertauscht: Aus dem anfangs aufdringlich charmanten Mann, der mit seiner betont lockeren Art immer unsympathischer wirkt - noch dazu, wo man miterleben muss, wie er ein minderjähriges Mädchen um den Finger wickelt und sie zu sich nach Hause lockt - wird ein wehrloses Opfer, dessen Beteuerungen angesichts der ihm angetanen Drohungen und Gewalt plötzlich allzu glaubhaft wirken. Überhaupt ist das der größte Pluspunkt des Films: Er verwischt die scheinbar festen Grenzen zwischen Gut und Böse; die gängigen Meinungen über Pädophile und ihre Opfer werden hier völlig entwurzelt. Dank superb ausgestalteter Dialoge wird das komplexe Verhältnis zwischen erwachender pubertärer Sexualität und dem mitunter mangelnden Verantwortungsbewusstsein Erwachsener verdeutlicht - und die Frage nach einer eindeutigen Zuordnung in Kategorien wie "pervers" oder "pädophil" als viel zu oberflächlich abgetan. Faszinierend, dass über weite Strecken beide Parteien hier durchaus nachvollziehbare Argumente liefern, die eine Entscheidung zugunsten einer Seite erschweren. Auch wenn mit der Figur der psychisch gestörten Hayley deutlich Kritik an einer vorverurteilenden Gesellschaft genommen wird: Sie gibt sich selbst den Anschein der Heldin und Rächerin, entpuppt sich aber als gewalttätige und zynische Psychopathin, der mit vernünftigen Argumenten nicht beizukommen ist. So verurteilt der Film eine Gesellschaft, die sich viel zu schnell von Emotionen und nicht mehr von Verstand und Recht lenken lässt.
Auch wenn im gesamten Film so gut wie kein Blut zu sehen ist, verstört "Hard Candy" dank der mitreißenden Dialoge, der schwierigen Debatte um ein heikles Thema und der lange anhaltenden Ungewissheit über das Schicksal der Figuren zutiefst. Erst zum Finale, wenn aus dem fiebrig-fesselnden Zwei-Personen-Stück ein ordinärer Thriller wird, verpufft diese Spannung leider. Das liegt nicht nur an der einen oder anderen unglaubwürdigen Szene - wenn etwa ein erwachsener Mann nicht mit einem schmächtigen Mädchen fertig wird - sondern auch an dem misslungenen Ende: Die nur bedingt logische Auflösung relativiert die komplexen Moraldiskussionen und macht die Entscheidung für eine Seite allzu einfach - wohl um die traktierten Nerven der Zuschauer etwas zu schonen. Hätte man auch bei der Auflösung so viel Mut bewiesen wie beim Rest des Films, hätte hier einer der intelligentesten und mitreißendsten Beiträge zu einer wirklich wichtigen Debatte um Humanität, Vergeltung und Schuld entstehen können. Aber auch so ist "Hard Candy" ein harter, verstörender, aber kluger und ultraspannender Schocker.