Was für ein Glück es ist, dass Josef von Sternberg diesen Film gemacht hat. Nicht weil Underworld, wie später noch ausgeführt wird, als Vorläufer des amerikanischen Gangsterfilms gesehen wird. Nicht, weil Clive Brook hier seine beste Leistung vollbringt und George Bancroft ihm in nichts nachsteht. Der simple Grund, warum Underworld ein Glücksfall für die Filmgeschichte und die Karriere einer Berlinerin namens Marlene Dietrich wurde, ist Geld.
Underworld war ein Hit für Paramount, es war die Rehabilitation des Regisseurs nach der desaströsen Zusammenarbeit mit Charles Chaplin. Dieser hatte nach Sternbergs vielversprechendem Erstling The Salvation Hunters dessen The Sea Gull produziert. Das Ergebnis ist einer der berühmtesten "verlorenen Filme" der Kinogeschichte. Chaplin war mit dem Endprodukt unzufrieden gewesen, der Film wurde nie veröffentlicht, die Kopien in den dreißiger Jahren zerstört. 1927 drehte Josef von Sternberg schließlich das Gangsterdrama Underworld. Bis dahin hatten sich seine Aufträge auf Reshoots und Recuts der Filme anderer Regisseure beschränkt. Nun begründete der finanzielle Erfolg des Films seine künstlerische Blütezeit im Rahmen der Zusammenarbeit mit Paramount, die bis 1935 anhalten würde.
Vielleicht enthält Underworld nicht alle typischen Sternberg-Zutaten. Noch sind die Männer einigermaßen dominant, was besonders an Bancrofts wuchtiger Leinwandpräsenz liegt. Doch ihr Hang zum Opfer für die Dame ihres Herzens deutet sich schon hier an. Wie Adolphe Menjou und Lionel Atwill später jede Erniedrigung in Kauf nehmen, so sind hier George Bancroft und Clive Brook ihrer Göttin ergeben. Auch wenn sie noch nicht in Gestalt von Marlene Dietrich auf die Erde hinab gesandt wurde.
Feathers (Evelyn Brent) ist stattdessen das ganz und gar nicht obskure Objekt der Begierde. Als Freundin des Gangsterbosses Bull Weed (Bancroft) fällt sie dem zum Gentleman reformierten Säufer Rolls Royce (Brook) auf. Der verdankt dem Boss sein Leben und die Gesundung seiner Leber, also ist der Gewissenskonflikt klar. Verkompliziert wird die Geschichte durch Bulls Rivalen Buck Mulligan, der ebenfalls ein Auge auf die Schöne geworfen hat.
Die ihrem Wesen nach simple Story entwickelt im Verlauf des Films ein unerwartetes Eigenleben. Plätschert am Anfang das Gangsterleben des jovialen Bull und seiner Entourage noch unterhaltsam vor sich hin, gestaltet Sternberg die zweite Hälfte als spannenden Hybrid aus Gangsterfilm, Melodram und Gerichtsdrama. Natürlich beginnt der Boss etwas zu ahnen von der Affäre seiner beiden Mitstreiter. Das Ganze kollidiert bald mit den Versuchen seines Rivalen, ihm den Rang abzulaufen.
Höhepunkt und Kreuzung der Handlungsstränge ist die Gangsterparty, die geradeheraus als solche deklariert wird. Während Brooks Figur aus Frustration wieder beginnt zu trinken, da jeder Tanz mit seiner Angebeteten zum Verdachtsmoment wird, ist Buck aus auf Feathers, wenn nötig mit Gewalt.
Die Konfettiwüste, die ein fabelhaftes Bild für den fatalen Rausch der Roaring Twenties darstellt, wird als Motiv in späteren Sternberg-Filmen wieder auftauchen, z.B. in The Devil is a Woman. Nie wieder wird er den Partyexzess jedoch so inszenieren, wie hier. Ob nun durch einen aus rapide aneinander geschnittenen Großaufnahmen bestehenden Aufbau des Climax, der an sowjetische Regisseure dieser Zeit erinnert. Oder die unvergessliche Gestalt George Bancrofts, die halb betrunken, halb vor Wut rasend durch die Gänge stampft.
Bancrofts Bull Weed macht die größte Wandlung durch. Ist er zunächst der einnehmende Boss, der ständig in - für einen Stummfilm - laute Lacher ausbricht, offenbart er im Verlauf des Films alle weiteren Facetten, die zu einem Gangster gehören und ein paar mehr. Eifersucht, Raserei, Kaltblütigkeit, Loyalität... Bancroft unterschätzt man sofort als Nebenfigur, doch reißt er als aktivste aller Figuren bald unmerklich den ganzen Film an sich. Eine eindeutige Hauptfigur ist dennoch nicht auszumachen.
Die Leistung des Drehbuchautors Ben Hecht, der später Notorious und Scarface schreiben sollte, besteht darin, eine für einen Sternberg recht komplexe Figurenzeichnung abzuliefern. Zwar umgibt besonders Rolls Royce das für den Regisseur typische Mysterium, doch wird weder er noch Bancroft im Angesicht der Frauenfigur als Beiwerk deklassiert. In The Scarlet Empress sollte Sternberg eben jene Vorgehensweise auf die Spitze treiben.
Die ungewöhnliche Brutalität der finalen Schießerei, welche Sternberg durch zersplitternde Häuserfassaden und Fensterrahmen drastischer darzustellen weiß, als so mancher Regisseur mit zig Litern Kunstblut, ist sicher einer der Hinweise auf die Vorreiterstellung von Underworld für spätere Filme wie Little Caesar und The Public Enemy. Angesichts der expressiven Licht- und Schattengestaltung gerade in den Gefängnisszenen kann man sogar soweit gehen, Sternbergs Film als Nahtstelle zwischen Expressionismus und einer frühen Form des Film Noir zu bezeichnen.
Ungeachtet jeder filmhistorischen Einordnung bleibt Underworld ein bis zum bitteren Ende spannender Gangsterfilm, der durch seine Oscar prämierte Story auch den formal versierteren The Docks of New York hinter sich lässt. Dank der Schauspieler, die in vielen Großaufnahmen glänzen und auch in komischen Momenten nicht verblassen, liefert Underworld den unbestreitbaren Beweis für Sternbergs Regievermögen jenseits der großen Dietrich-Filme ab.