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Der Film von Jean-Pierre Denis erzählt die historische Geschichte der Schwestern Christine und Léa Papin, die 1932 als eines der damals bekanntesten Verbrechen die französische Gesellschaft in Aufruhr versetzte und Anlass unter anderem zur Diskussion über Arbeitsbedingungen von Dienstmädchen in herrschaftlichen Häusern gab. Bei der öffentlichen Wahrnehmung des Falles spielt auch das Gerücht eine Rolle, dass Christine, die ältere der Schwestern, durch einen Gefühlsausbruch nach der Verhaftung den Anschein erweckt haben soll, es habe eine sexuelle Beziehung zwischen den beiden Schwestern gegeben. Der Fall wurde zur Grundlage des Romans "L'affaire Papin" von Paulette Houdyer, das vom Regisseur und Michèle Pétin zum Filmdrehbuch ausgearbeitet wurde. Im Film spielt das sexuelle Element der geschwisterlichen Beziehung eine wichtige Rolle, drängt dabei aber andere Themen nicht in den Hintergrund. "Mörderische Wunden" bedeutet der Originaltitel des Films und weist damit auf die psychischen Belastungen der Hauptfiguren als Hintergrund der Tat hin. Was nicht heißen soll, dass er sie zu rechtfertigen sucht, sondern nur dass er einen (zwangsläufig fiktional ergänzten) Blick hinter die Kulissen der Mordtat wirft.

Aufgrund der zugrundeliegenden Ereignisse kommen mit Mord und (möglicherweise) gleichgeschlechtlicher Sexualität unter Geschwistern mehrere potentielle Aufreger zusammen, und man hätte nun leicht einen Film drehen können, der dieses Thema einfach nur aufgrund des Skandalfaktors billig ausreizt. Die Herangehensweise von Denis ist jedoch eine ganz andere. Nicht schamhaft wegblendend, aber auch nicht voyeuristisch anstarrend nähert er sich den von Sylvie Testud (Christine) und Julie-Marie Parmentier (Léa) hervorragend verkörperten Schwestern, wenn sie ihre intime Neigung zueinander entdecken, und ist auch in den durchaus erotischen Szenen ihrer intimen Annäherung näher an den Gedanken und Emotionen, die in den Gesichtern der jungen Frauen aufscheinen, als an ihrer nackten Haut. Das ist nur möglich durch eine fein differenzierte und niemals einstudiert wirkende Interpretation der beiden Darstellerinnen, die dem Zuschauer das Innenleben der Figuren so nahe bringt wie nur irgend möglich. Sowohl die Erregung als auch das anfängliche Zurückschrecken werden graduell abgestuft in der Mimik der Darstellerinnen deutlich, ohne dass diese Gefühlszustände verbalisiert werden müssten.

Aber auch sonst macht der Film alles richtig: Er interessiert sich nicht einseitig nur für diese oder jene Figur, schlägt sich nicht moralisierend auf die eine oder die andere Seite, verdammt ebensowenig wie er verharmlost, öffnet dem Zuschauer Spielraum für die eigene Bewertung der Ereignisse und lässt jede Figur ihre Position verdeutlichen. Die Rebellion von Christine gegen ihre Mutter und ihre Arbeitgeberin wird immer als begründet und verständlich vermittelt, ebenso klar wird jedoch, wie sie durch ihre Unzugänglichkeit Chancen auf Verbesserung ihrer Situation verspielt. Ein heftig aufgeladenes Streitgespräch, in dem durchgängig beide Figuren im Grundsatz das Verständnis des Rezipienten haben, das zeigt die Einfühlsamkeit und die inhaltliche Klasse eines Films.

Bei aller psychologischen Feinheit vernachlässigt Denis zudem keineswegs die visuell-stilistische Ebene. In so gegensätzlichen Szenen wie den Darstellungen der erwachenden sexuellen Anziehung zwischen Christine und Léa sowie der in Blicken entlang schmutziger Gänge und durch Gitter verdeutlichten Trostlosigkeit des Gefängnisses gegen Ende wird deutlich, wie verlässlich das Gespür von Regie und Kamera (Jean-Marc Fabre) für das passende Licht und die geeignete Bildkomposition ist. Auch symbolische Aspekte werden zur Verdichtung der filmischen Erzählweise eingesetzt. Ein gusseiserner Ring, den Christine immer wieder zu Boden wirft, bis er schließlich zerspringt, steht für ihre im Endeffekt zerstörerische Leidenschaft - um ein einfaches Beispiel zu nennen. Sylvie Testud ist genau die richtige Darstellerin für die höchst emotionale, aber in vielen Situationen auch sehr unterkühlt erscheinende Figur Christine. In jede Lage fühlt sich diese höchst engagierte Schauspielerin glaubwürdig ein. Aber auch ihr Gegenpart Julie-Marie Parmentier zeigt beeindruckend, wie Naivität und kindliches Vertrauen weichen und Zweifel sowie letztlich Hass Einzug im Gemüt der jungen Léa halten. Ebenfalls verdient Isabelle Renauld in der Rolle der Mutter Erwähnung, die einerseits die Verfehlungen ihrer Figur deutlich werden lässt, aber auch durch ihre Darstellung von Unsicherheit und Verhärmtheit es dem Betrachter nicht leicht macht, sie zu verurteilen.

Ein hervorragendes Psychodrama, dem man nur wünschen kann, dass es noch mehr internationale Wahrnehmung findet.

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