Biografie aus dem Taschenbuch „Superfrauen 1 - Geschichte“
von Ernst Probst
Die seltene Ehre, Tochter eines späteren Papstes gewesen zu sein, gebührte der italienischen Fürstin Lucrezia Borgia (1480–1519). Das Mädchen war zwölf Jahre alt, als man am 10. August 1492 seinen Vater Rodrigo Borgia (1431–1503) zum geistlichen Oberhaupt der katholischen Kirche wählte. Der neue Stellvertreter Jesu Christi auf Erden nannte sich Papst Alexander VI. Entgegen zeitgenössischen Verleumdungen führte Lucrezia einen soliden Lebenswandel.
Lucrezia Borgia wurde am 18. April 1480 von Vannozza Catanei (um 1442-1518), der verheirateten Geliebten ihres Vaters, in Rom zur Welt gebracht. Zu dieser Zeit besaß Rodrigo Borgia bereits hohe kirchliche Ämter. Sein Onkel Alonso Borgia (1378–1458), seit 1455 Papst Kalixt III., hatte ihn 1455 zum Kardinal und 1456 zum Vizekanzler der römischen Kirche ernannt. In dieser Funktion diente er vier Päpsten.
Rodrigo Borgia zeugte vermutlich mindestens sieben Kinder. Sein Sohn Pedro Luiz (um 1460–1488) sowie die beiden Töchter, Girolama (1469–1483) und Isabella (1470–1541) gingen aus einer früheren Verbindung hervor. Von Vannozza Catanei, deren Herkunft im Dunkeln liegt, stammten die Söhne Cesare (1475–1507), Juan (1476–1497), die Tochter Lucrezia und der Sohn Joffré (1481–1517).
Erster Mann Vannozzas wurde Domenico d’Arignano, nach dessen Tod sie ihr Geliebter Rodrigo 1480 mit dem Mailänder Giorgio di Croce verheiratete. Möglicherweise war der Sohn Joffré Borgia die Folge eines „Seitensprungs“ Vannozzas mit ihrem zweiten Gatten gewesen. Nach dem Tod di Croces schloss Vannozza mit dem Mantuaner Carlo Canale die dritte Ehe. Rodrigo Borgia versorgte alle drei Ehemänner mit Posten an der Kurie. Ende der 1480-er Jahre erlosch Rodrigos Interesse an Vannozza.
Lucrezia Borgia lebte nur acht Jahre lang im Haus ihrer Mutter. Ab 1488 kam sie in den römischen Haushalt von Adriana de Mila, einer Tochter von Lucrezias Onkel Pedro Luiz dem Älteren (gest. 1458). Lucrezia entwickelte sich zu einem attraktiven Mädchen. Sie besaß eine anmutige Gestalt, eine schön geschnittene Nase, blonde Haare, strahlend weiße Zähne, einen schlanken Hals, einen gut geformten Busen und war sehr gebildet.
1491 verlobte Kardinal Rodrigo Borgia seine elfjährige Tochter Lucrezia mit Don Juan de Centelles, einem Angehörigen des alten spanischen Adelsgeschlechtes der Grafen von Oliva. Noch bevor diese Verlobung aufgelöst wurde, verlobte er sie mit einem anderen spanischen Adligen, dem Sohn des Grafen von Procida.
Bald folgte eine dritte Verlobung Lucrezias mit dem italienischen Adligen Giovanni Sforza (1466–1510), dem Grafen von Pesaro. Ihr mittlerweile päpstlicher Vater beruhigte den lautstark auf die Einhaltung des Verlobungsvertrages pochenden Grafen von Procida mit einer Abstandssumme von 3000 Dukaten.
Am 2. Juni 1493 fand die Hochzeit zwischen der 13-jährigen Lucrezia und Giovanni Sforza statt. Es gab keine Hochzeitsnacht, weil der Bräutigam noch in der Nacht abreiste. Nachdem der König von Frankreich im Frühjahr 1494 die Krone von Neapel forderte und die Borgia und die Sforza unterschiedliche Stellungen bezogen, wünschten die Borgia eine Auflösung der Ehe Lucrezias mit Giovanni Sforza.
Nach einem Essen am Abend des 14. Juni 1497 in einem Weinberg, zu dem Vannozza Catanei ihre Kinder eingeladen hatte, wurde ihr Sohn Juan Borgia ermordet und gegen zwei Uhr nachts in den Tiber geworfen. Zwei Tage später fand man seinen Leichnam mit auf den Rücken gebundenen Händen, neun Dolchstichen und durchgeschnittener Kehle.
Am 20. Dezember 1497 wurde die erste Ehe Lucrezias wegen angeblicher Impotenz des Gatten geschieden. Der wütende Giovanni Sforza revanchierte sich mit der Behauptung, die Ehe sei nur aufgelöst worden, damit der Papst und Cesare ungestört Blutschande mit Lucrezia treiben könnten.
Ein halbes Jahr nach der Scheidung ihrer ersten Ehe wurde Lucrezia am 20. Juni 1498 mit Alfonso von Bisceglie (1481–1500), dem Prinzen von Salerno und unehelichen Sohn des Königs Alfons II. von Neapel (1449–1496), verheiratet. Aus der sehr glücklich verlaufenen zweiten Ehe ging der Sohn Rodrigo (1499–1512) hervor.
Im Gegensatz zu Cesare Borgia, der auf der Seite Frankreichs stand, hielt Alfonso von Bisceglie zum König von Neapel. Er geriet in einen Hinterhalt, wurde durch Dolchstiche schwer verletzt, konnte sich aber noch vor Lucrezias Türe schleppen, die ihren mit dem Tod ringenden Gatten liebevoll pflegte. Am 18. August 1500 erwürgte Cesare Borgias Henker Lucrezias zweiten Mann Alfonso im Bett.
Cesare Borgia war als Siebenjähriger „Apostolischer Protonotar“, mit 17 ohne Priesterweihe Bischof von Pamplona und Erzbischof von Valencia (beide in Spanien) sowie mit 18 Kardinal geworden. Nach dem Tod seines Bruders Juan hatte er 1498 die geistlidche Laufbahn aufgegeben und 1499 die französische Königstochter Charlotte d’Albret (gest. 1514) geheiratet, was ihm das Herzogtum Valence als Lehen einbrachte. Danach hatte er mit Gewalt ein Herzogtum in der Romagna geschaffen und vergeblich versucht, ein mittel- und oberitalienisches Königreich zu gründen, was sich mit französischen Interessen deckte.
Der skrupellose Cesare Borgia diente dem italienischen Geschichtsschreiber Nicoló Machiavelli (1469–1527) in seinem Werk „Il Principe“ („Der Fürst“) als Vorbild für einen bedenkenlosen Machtpolitiker. Auf Cesares Konto gehen etliche mit Gift und Dolch begangene Morde an politischen Gegnern. Mit seinem Namen sind auch sexuelle Ausschweifungen verbunden.
1502 heiratete Lucrecia Borgia in dritter Ehe Alfonso I. d’Este, Herzog von Ferrara (1476–1534). Bei den Ehevertragsverhandlungen hatte Ercole I. d’Este (1431–1505) dem Papst eine Mitgift von 300000 Dukaten abgetrotzt. Lucrezia musste ihren kleinen Sohn Rodrigo in Rom zurücklassen. Ihr junger Mann, dem man sie aufgedrängt hatte, vergnügte sich tagsüber bei Mätressen und Prostituierten, verbrachte jedoch die Nacht regelmäßig bei ihr.
Ein von Cesare Borgia im Vatikan veranstaltetes Gelage mit 50 Dirnen, das zur Orgie ausartete, bei der der Papst und Lucrezia zugesehen haben sollen, fand in Wirklichkeit erst statt, als sich Lucrezia bereits am Hof von Ferrara aufhielt. Bei dieser Orgie tanzten die Dirnen nach dem Mahl nackt mit Dienern und anderen Männern, krochen auf dem Boden zwischen brennenden Kerzenleuchtern umher und sammelten ausgestreute Kastanien. Männer, die am häufigsten den Akt vollzogen, erhielten Preise.
Am 5. September 1502 brachte Lucrezia eine tote Tochter zur Welt. Nach dem Tod von Papst Alexander VI. im Jahre 1503 wurde Papst Pius III. (1439–1503) dessen Nachfolger. Auf ihn folgte nach kurzer Zeit – ebenfalls 1503 – Papst Julius II. (1443–1513), ein erbitterter Gegner von Cesare Borgia. Man nahm Cesare 1503/1504 sowie 1504 bis 1506 gefangen, und er musste seine Eroberungen herausgeben.
1505 trat Alfonso I. d’Este die Nachfolge seines verstorbenen Vaters Ercole I. an. In jenem Jahr gebar Lucrezia Borgia erstmals einen Stammhalter, der jedoch nach wenigen Wochen starb. Ihr Bruder Cesare fiel am 12. März 1507 als Condottiere (Söldnerführer) im Dienste seines Schwagers Jean d’Albret, des Königs von Navarra, in Viana (Kastilien).
Am 4. April 1508 schenkte Lucrezia einem Sohn, dem späteren Ercole II. (1508–1559), und am 25. August 1509 dem Sohn Ippolito (1509–1572) das Leben. Ercole II. regierte 1534 als Nachfolger seines Vaters, Ippolito wurde 1538/1539 Kardinal und war mehrfach Kandidat bei Papstwahlen. Nach der Geburt ihrer Söhne galt Lucrezia als unangefochtene Herzogin Ferraras. Ihr Mann respektierte und liebte sie inzwischen.
Die geistvolle Lucrezia zog namhafte Dichter und Gelehrte an den Hof von Ferrara, Modena und Reggio. Dazu gehörten unter anderem der Humanist und Dichter Ercole Strozzi (1472–1508) und der Dichter Ludovico Ariosto (1474–1533), der das größte Epos der Renaissancezeit mit dem Titel „Orlando Furioso“ („Der rasende Roland“, 1516) schrieb.
Um 1510 fertigte der italienische Maler Lorenzo Lotto (um 1480–1556) ein Porträt von Lucrezia Borgia an, das in der National Gallery, London, aufbewahrt wird. Im April 1514 wurde Lucrezia Mutter des Sohnes Alessandro, 1515 der Tochter Leonora und 1516 des Sohnes Francesco. Im Herbst 1518 erkrankte Lucrezia während einer erneuten Schwangerschaft schwer. Im Beisein ihres Mannes starb sie in der Nacht des 24. Juni 1519 im Alter von nur 39 Jahren nach einer Fehlgeburt in Ferrara.