Das Göttliche
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Der Film ist nun schon seit Stunden vorbei und lässt mir keine Ruhe mehr. Joseph Vilsmaiers Verfilmung des Buches "Schlafes Bruder" hat mich so bis ins Mark beeindruckt und erschüttert, dass sogar ich als vehementer Atheist den Glauben an so etwas wie das Göttliche bekommen könnte. Nicht so sehr im religiösen Sinne. Doch zu sehen, zu was der Mensch in höchster künstlerischer Vollendung fähig ist - wie er alle Sinne in einen rauschhaften Zustand versetzt und den Geist in überirdische Sphären entschweben lässt - das ist wahrlich etwas Göttliches!
Doch bleiben wir bei der Sache. Das Meisterwerk ist angesiedelt in einem verlassenen Alpendorf Ende des 18. Jahrhunderts. Fortschritt, Aufklärung und Gesellschaftsentwicklung sind noch lange nicht in das kleine Eschberg vorgestoßen, wo in einer inzestuösen, starren Dorfgemeinschaft ein Bastard geboren wird - Johannes Elias Alder. Von seinen Eltern und auch vom Rest der Einwohner zunächst ausgestoßen, fristet er ein Leben als Außenseiter. Doch auch er sondert sich ab, will mit dem einfachen Leben der Bauern nichts wissen, denn seine Leidenschaft widmet er voll und ganz der Musik. In einer mystisch-wuchtigen Sequenz auf einem Stein an einem Bergsee erlebt der Junge seine Geburt neu und erkennt seine wundersame Begabung: Er hat das absolute Gehör. In den schweren Jahren seiner Jugend kümmert er sich fieberhaft mit seinem einzigen Freund Peter um die Dorforgel.
Schließlich wird er erwachsen und verliebt sich in die Bauerstochter Elsbeth, die eigentlich einem anderen versprochen. Doch sie erwidert seine Liebe nicht, wie erhofft, denn sie versteht ihn nicht und ihre profane Vorstellung von Liebe scheint sich nicht mit seiner ideellen zu vertragen. Hinzu kommt, dass sein Freund Peter aus Eifersucht alles tut, um beide auseinander zubringen, was dann in einer Katastrophe endet. Als schließlich sein wundersames Talent an der Orgel zu Tage tritt und den beeindruckten Dorfbewohnern die Tränen in die Augen treibt, wendet sich das Schicksal der trägen Gemeinschaft schlagartig. Die "unerwiderte" Liebe zu Elsbeth macht ihm immer mehr zu schaffen, Konflikte zerrütteln die Freundschaften, sodass Elias dann den Entschluss fasst, nicht mehr zu schlafen - Wer liebt, schläft nicht.
Authentizität ist hier das Stichwort. Vilsmaier gelingt durch seine wuchtige Bildsprache eine unglaublich intensive und lebhaft-detailreiche Darstellung dieser rückständigen, inzestuösen von Sturheit geprägten kleinen Welt. Es wirkt fast wie ein entrücktes Modell der primitiven Menschlichkeit schlechthin. Das harte Leben, die rauen Sitten und die harsche Natur prägen die Menschen, sodass Konflikte offen ausgetragen werden. Das kleine Modell, der mickrige Film, zeigt im Grunde alles, was den Menschen in seiner Art ausmacht. Alles wird behandelt: Beklemmende Szenen der zwischenmenschlichen Aggression, über Wut, Neid, Machtsucht und Intoleranz. Erschütternd, wie etwa der Dorflehrer die "Erbsünde" den anderen Kindern an dem behinderten Jungen der Alders demonstriert, bis sie ihn alle auslachen. Oder wie Elias vom Lehrer brutal verprügelt wird, nur weil ihm als erster auffällt, dass dessen Orgel schief klingt.
Da ist die Eifersucht von Peter, der Elias so liebt, dass er das ganze Dorf in den Ruin stürzt. Und die Übermacht der Religion, der strenge Glaube, an dem sich die Dorfbewohner verbissen klammern. Die pantheistischen, aufklärerischen Gedanken, die ein armer Einsiedler immer wieder den Dorfbewohnern zu erklären versucht, werden gnadenlos abgeschmettert. Und da ist auch immer der ständig lauernde Tod, die größte Determination und der größte Einfluss auf das Leben der armen Bauern, der gelegentlich seine Schlingen über einigen Opfern zusammenzieht.
Im Kontrast zu alledem ist da noch die unsterbliche Musik. Alles andere mutet nur noch lächerlich primitiv an, wenn Elias in den musikalischen Klängen der Natur schwelgt, oder selbst Orgel spielt. Ist es das, was uns vom Tier unterscheidet? Sein Geist ist frei, aber er scheint der Einzige zu sein, der das erkennen will. Und so wird er plötzlich vom Außenseiter zum Wunder, als er in einer unbeschreiblich genialen, erhabenen, gigantisch inszenierten Sequenz vor der Gemeinde in der Kirche Orgel spielt, dabei seine innersten Gefühle entblößt, während die Anderen wirklich weinend und zitternd unwürdig zu ihm heraufblicken. Am Ende potenziert sich dieses Gefühl noch tausendfach. So auch die nachdenklichen Szenen in der unberührten, beeindruckenden Alpennatur, wenn Elias mit Elsbeth zusammen ist. Die mystisch anmutende Szene, wie sich Elias Augen gelb färben und er das absolute Gehör bekommt.
Die großartige Soundkulisse und die erdige, kernig-intensive Bildsprache verstärken dabei jegliche Dramatik ins Unermessliche und deuten darauf, dass es hier um nichts weniger geht, als das elementare Sein. Die Essenz aller Philosophie und Anthroposophie ist in diesem filmischen Überwerk vereint, wie nirgendwo anders, und löst beim Betrachten und noch lange danach etwas aus, das man wohl als eine Form von "Erkenntnis" auffassen kann. Bei mir zumindest.
Es fällt mir einfach schwer, mich auszudrücken, aber der Film hat mich so tief bewegt, wie kaum ein anderer. Verfluchen möchte ich für einen kurzen Moment (fast) all die anderen Filme auf dieser Welt, wegen ihrer Plumpheit im Vergleich zur Vollendung und Wucht von DEM Film "Schlafes Bruder". Unvergesslich, nicht mehr greifbar und in so ziemlich jeder Hinsicht GAR nicht mehr zu übertreffen. Von NIEMANDEM! 10++/10.