Vorsicht, Spoiler!
Ich weiß nicht, wie oft ich es bereits in meinen Kritiken angesprochen habe, aber so repetitiv ein bestimmtes Motiv, nämlich das des unschuldigen Mannes, der Böses getan haben soll, innerhalb des rund 50-jährigen Werkes von Alfred Hitchcock auch gewesen sein mag, irgendwie gelang ihm immer wieder, es so zu variieren, daß sich beim Zuschauer niemals der „Schon wieder?“-Effekt einstellte. „Die 39 Stufen“, „Saboteure“ und „Der unsichtbare Dritte“ sind sicherlich das Triumvirat des abenteuerlichen und größtenteils komödiantischen Fluchtthrillers: Die Handlung blieb dort zwar alles in allem sehr ähnlich, weshalb die drei Filme beinahe wie ein und dasselbe Werk erscheinen, lediglich ausgetauscht durch neue Hauptfiguren und MacGuffins und mit immer höheren Budgets. Hier legte Hitchcock den Wert hauptsächlich auf die pure Unterhaltung unter Einbindung berühmter Bauwerke und ungewöhnlicher Schauplätze. „Der zerrissene Vorhang“ gehört wohl auch noch in die Kategorie, kann aber bei weitem nicht mehr die Qualität erreichen und wirkt teilweise wie ein ausgelatschter Schuh.
Davon abgesehen ging er das Thema jedoch ganz verschieden an: „Der Mieter“ schwimmt in unheimlichem Jack-the-Ripper-Gewässer, noch ganz von der Experimentierfreude Hitchcocks geprägt; „Jung und unschuldig“ stellt ein Heldenduo in den Vordergrund, das tatsächlich so jung und unschuldig ist, wie der Titel sagt, und zeichnet sich durch faszinierendes unaufgeregtes Anti-Thriller-Geplätschere aus; „Ich kämpfe um dich“ ist weniger Jagd auf den wahren Täter als Suche nach dem wahren Ich hinter dem Gedächtnisverlust; in „Die rote Lola“ ein Whodunit, bei dem der unschuldig Verdächtigte in Wirklichkeit schuldig ist; „Ich beichte“ spielt mit dem katholischen Beichtgeheimnis, durch das sich der Pfarrer ungewollt selbst ans Messer liefert; „Bei Anruf Mord“ ein Kammerspiel aus der Sicht des Schurken, in dem dessen Frau erst nach und nach vom gewünschten Opfer zum Täter umfunktioniert werden soll; und in seinem vorletzten Film „Frenzy“, in dem der vemeintliche Täter unsympathisch wie nie ist, gewürzt mit tiefschwarzem makabrem Humor und dabei vom Handlungsverlauf her doch realistisch.
„Der falsche Mann“ kommt von all den genannten Filmen letzterem noch am nächsten, verzichtet jedoch ausnahmsweise auf wirklich jeden Anflug von Humor, wenn man es nicht als lustig bezeichnen will, durch welche irrwitzigen Zufälle der unbescholtene Bürger Manny Balestrero (Henry Fonda) in die Mühlen der Justiz gerät, ohne sich daraus befreien zu können. Zunächst durch zwei Kassiererinnen in einer Versicherungsgesellschaft als der Mann identifiziert, der vor wenigen Monaten bereits einmal eben diese ausgeraubt hat, wird er von Polizisten vor seiner Haustür abgefangen und aufgrund entweder zweifelsfrei-eindeutiger oder mit der Einschränkung „könnte sein“ versehener Aussagen von anderen Opfern der Raubzüge verhaftet. Angeblich soll diese Geschichte auf einer wahren Begebenheit beruhen (als Vorlage diente der Roman „The True Story of Christopher Emmanuelle Balestrero“ von Maxwell Anderson), aber man mag es kaum glauben, was er mitmachen muß.
Die Polizisten behandeln ihn stets und von Anfang an von oben herab, meinen die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben und scheinen den armen Manny mit wahrer Freude ins Gefängnis bringen zu wollen. Durch die Zahlung einer Kaution kann er der Untersuchungshaft entgehen, sich den Anwalt Frank O’Connor (Anthony Quayle) suchen und sich mit tatkräftiger Unterstützung seiner liebenden Frau Rose (Vera Miles) auf die Suche nach Zeugen machen. Doch alle, die ihn entlasten könnten, sind entweder verstorben oder ausgeflogen. Dies nagt nicht nur an Manny, sondern auch an Rose, die langsam aber sicher ihren Depressionen verfällt...
Es ist wahrlich keine leichte Kost, die Hitchcock uns auftischt, besonders in Anbetracht der Tatsache, daß „Der falsche Mann“ auf die locker-flockigen „Über den Dächern von Nizza“, „Immer Ärger mit Harry“ und dem nicht ohne Witz auskommenden „Der Mann, der zu viel wußte“ folgte. Damit folgt er dem Schema, dem Zuschauer nach einer Reihe von Unterhaltungsfilmen zwischendrin etwas völlig Ernsthaftes zu präsentieren (vgl. „Sabotage“ in den 30ern). Intensiver und bedrückender aber ist Hitchcock wohl selten gewesen.
Wie die Maus in der Mausefalle erscheint Manny, sobald er erst einmal festgenommen ist. Die Schlinge um seinen Hals zieht sich immer weiter zu, schonungslos folgt Kameramann Robert Burks ihm Schritt auf Tritt. Begleitet wird dies von der überraschend zurückhaltenden Musik von Bernard Herrmann. Minutenlang wird der Gang in seine Zelle im Dokumentarstil ausgewalzt, fast in Echtzeit schlurft er durch die Gefängnisgänge und muß sich vor den Wärtern ausziehen, ehe er in seinem neuen „Heim“ ankommt. Regungslos läßt Manny das Prozedere über sich ergehen, das Gesicht bewegungslos, der Ohnmacht nahe. Visualisiert wird dies an der weißen Wand seiner Zelle durch kreisförmige Kameradrehungen mit Nahaufnahmen des schwitzenden Henry Fonda, innerlich den lauten Schrei ausstoßend, hier raus zu wollen (was wenige Sekunden später aufgrund der bezahlten Kaution auch tatsächlich geschieht). Man fragt sich, ob er nicht einfach mal seine ganze Verzweiflung herausrufen will, aber Manny tut es nicht. Er leidet still, durchweg. Selbst als er die unglaublichsten Dinge durchlebt, bewahrt er, abgesehen von leisen Protesten, die Ruhe und ergibt sich höflich seinem Schicksal. Fonda liefert eine Glanzleistung und beweist, daß ein Understatement in der Mimik oftmals viel wirkungsvoller ist, als die volle Emotionsschiene zu fahren: ein sympathischer Mann, den man anfeuern möchte, daß ihm doch endlich Gerechtigkeit widerfahren möge. Man wird richtiggehend von einer Wut ergriffen und kann einfach nur mit dem Kopf schütteln. Kann es am Ende nicht wenigstens Genugtuung geben?
„Der falsche Mann“ ist leider kein Märchen. Dies ist die Realität. Hitchcock geht es nicht darum, im Finale ein spannungsreiches Duell heraufzubeschwören. Schildert er zunächst minutiös das zerstörte Innenleben Mannys, wohlbeobachtet, ohne zu überdramatisieren, verlagert sich der Film ab der zweiten Hälfte auf die beginnende Verrücktheit Roses, die nach der Erkenntnis, daß auch der letzte Zeuge nicht aufzutreiben ist, einen hysterischen Lachanfall bekommt, von dem sie sich nicht mehr erholt. In der Folge wirkt sie apathisch, reagiert auf nichts mehr um sie herum, selbst die Kinder können ihr keinen Halt mehr geben. Sie zerbricht innerlich. Manny kann ihr nur helfen, indem er sie in eine Klinik einweist.
Tatsächlich durchzieht den Film von vorn bis hinten eine herzzerreißende Hoffnungslosigkeit, die sich später im Verhalten Roses widerspiegelt. Man möchte an das Happy End glauben, ahnt aber mit fortschreitender Dauer, daß das Warten ein vergebliches ist. Geradezu sauer machend ist die Szene im Gericht, in dem Manny dem Verfahren lauscht und er beim Umgucken feststellen muß, daß niemand, weder die Zuschauer noch die Geschworenen, richtig zuhört, weil der Fall für sie sowieso bereits klar ist. Ausgerechnet das vorlaute Gequäke eines Geschworenen sorgt dafür, daß die Verhandlung unterbrochen werden muß.
Ein Gebet zu Gott – den Glauben hat Manny trotz allem nie verloren – läßt schließlich den wahren Täter zu Fall kommen, so zufällig, wie auch Manny selbst zum Hauptverdächtigen geworden ist. Doch am Ende folgt keine Erlösung: Rose ist nicht mehr zu retten, und nichts ist quälender, schmerzhafter und rührender als der Abschlussdialog, in dem er seiner Frau in der Klinik die frohe Botschaft überbringt, endlich freigesprochen zu sein, während diese nur mit leerem Blick und wie in einer anderen Welt „Das ist schön für dich“ sagt, ohne sich darüber freuen zu können, zu geistig umnachtet ist sie. Das Schlußbild zeigt einen traurigen und gebrochenen Manny, der den Flur der Klinik entlanggeht und weiß, daß er sie für immer verloren hat. Exakt die gleiche Einstellung sollte sich in Hitchcocks nächstem Film „Vertigo“ wiederholen, als Barbara Bel Geddes als Midge eine ähnliche Erfahrung machen muß.
Nein, das ist keine Übertreibung meinerseits: Niemals war ein Hitchcock deprimierender. Zwar versucht die Texttafel am Ende noch zu suggerieren, daß die Familie Balestrero schon zwei Jahre später wieder glücklich und vereint war, aber dies ist wohl eher der Tatsache geschuldet, daß man – wir sprechen immerhin vom Hollywood der 50er Jahre – dem Zuschauer kein derart nihilistisches Ende zumuten wollte. Die Bilder davor sprechen allerdings für sich, da kann keine relativierende Texttafel mehr etwas kaputt machen. Trostloses, aber unvorstellbar intensives und glänzend gespieltes Drama, das nicht so oft gezeigt wird, aber auf alle Fälle in Hitchcocks Top-8 gehört. 9/10.