Mit dem rauen und direkten Sozialdrama „L’enfant“ gewannen die Brüder Dardenne ("Le fils“) 2005 die goldenene Palme von Cannes. Und das völlig zurecht. Denn obwohl sich die Kombination aus eher simpler Story und dem bei vielen so unbeliebten, ungeschminkt-realistischen, Digitalkamera-gestützten Stil zwar nach einem vielleicht guten und interessanten Film für ein Nischenpublikum, aber nicht nach einem unvergesslichen Meisterwerk anhören mag, gelingt den beiden belgischen Brüdern genau das Letztere.
Der 20-jährige Bruno (stark: Jérémie Renier) ist ein Kleinganove, der sich über Wasser hält, indem er (zumeist mithilfe von 2 Jugendlichen) diverse Sachen wie Portemonnaies, Handtaschen oder Kameras klaut und sie anschließend gewinnbringend weiterverkauft. Gleich zu Beginn des Films überrascht ihn Freundin Sonia mit einem gemeinsamen Baby. Bruno scheint dieses abzulehnen bzw. es ihm zumindest völlig egal zu sein, Emotionen zu seiner Vaterschaft zeigt er jedenfalls keine. Und an einem der nächsten Tage macht er auch noch - wie selbstverständlich - das Baby zu Kapital, indem er es an irgendwelche Adoptionswillige verscherbelt…
Das, was sich beim Lesen von Inhaltsangaben fast als erzählerischer Höhepunkt der Geschichte anhört, passiert eigentlich schon relativ früh im Film. In der restlichen Laufzeit steht dann nur noch Bruno im Mittelpunkt sowie seine verzweifelten Versuche, zunächst das Kind wieder zurückzuholen und weiters den Schlamassel, der sich sein Leben nennt, irgendwie zu meistern, wobei er sich, fast schon klassisch für dieses „Genre“, natürlich immer noch weiter in die Scheiße hineinreitet.
Den Dardenne Brüdern gelingt es dabei, mithilfe ihrer unspektakulären, aber sehr direkten und schnörkellosen Kameraführung und Schnittechnik sowie kleiner aber feiner Storyeinfälle einen unglaublichen Sog aufzubauen, der einen mit dem trotz seiner scheinbaren Gefühlskälte nie völlig unsympathisch dargestellten Bruno mitfiebern, mitzittern…ja: gar nicht mehr loslässt.
„L’enfant“ sei ausdrücklich jenen empfohlen, die mit derartig direktem und scheinbar unspektakulärem, realistischem Kino nichts anfangen können oder gar wollen. Er wurde völlig zurecht so bedeutend ausgezeichnet und stellt einen Höhepunkt des unbequemen, ungeschminkten, gleichzeitig mitreißend-intensiven und auch sehr unterhaltsamen, nie langweiligen und regelrecht spannenden Sozialkinos dar.
Auch filmische „Realitätsmuffel“ können hier also ruhig mal einen Blick riskieren.
Der Titel ist übrigens genial gewählt, ist doch nicht das kleine Kind von Bruno und Sonia titelgebend, wie man eigentlich annehmen möchte, sondern stellt sich immer mehr heraus, dass vielmehr Hauptfigur Bruno mit seinen 20 Jahren selbst „das Kind“ ist (auch die öfter eingestreuten Szenen, in denen Bruno und Sonia fast wie Kleinkinder rumalbern, belegen dies), der keine Ahnung hat, wie er sein Leben meistern soll und noch überhaupt kein Gespür für Verantwortung oder seine Rolle im Leben zu haben scheint („Hausmeister für 1000 Euro? Das ist doch Wichserarbeit!“).
Ein bedrückendes, pessimistisches (wenn auch nicht gänzlich niederschmetternd oder hoffnungsloses!) Statement der Dardennes, aber doch so zeitgeistnah, wahr und aussagekräftig.