Truffaut: Für das Drehbuch von “The Paradine Case” - nach einem Roman von Robert Hichens adaptiert von Ihrer Frau, Alma Reville - zeichnet auch David O. Selznick selbst.
Hitchcock: Robert Hichens hat auch “The Garden of Allah”, “Bella Donna” und viele andere Romane geschrieben. Ein Mann vom Anfang dieses Jahrhunderts. Als die Vorlage feststand, haben meine Frau und ich eine Adaptation geschrieben, damit Selznick einen ersten Kostenanschlag aufstellen konnte. Dann habe ich einen schottischen Theaterschriftsteller, James Bridie, um Mitarbeit gebeten, der in England einen sehr guten Ruf hatte. Er war über sechzig und sehr unabhängig. Selznick hat ihn nach New York kommen lassen, aber als niemand auf dem Flughafen war, um ihn abzuholen, ist er mit der nächsten Maschine nach London zurückgeflogen. Ein sehr unabhängiger Mensch! Er hat dann in England an dem Drehbuch gearbeitet und es uns geschickt. Das war keine sonderlich gute Arbeitsmethode. Danach hat Selznick dann selbst ein Drehbuch schreiben wollen. Das hatte er sich eine Zeitlang so angewöhnt. Er schrieb etwas und ließ es alle zwei Tage ins Studio bringen. Eine unmögliche Methode.
Schauen wir uns jetzt einmal die auffälligsten Fehler dieses Films an. Erstens glaube ich nicht, daß Gregory Peck einen englischen Rechtsanwalt darstellen kann, ein englischer Anwalt ist hochgebildet und gehört der Oberklasse an.
Truffaut: Wenn Sie hätten wählen können...
Hitchcock: ... hätte ich Laurence Olivier genommen. Ich hatte auch an Ronald Colman gedacht. Für die Frau hatten wir eine Zeitlang gehofft, Greta Garbo zu bekommen, das wäre ihr Comeback gewesen. Aber der größte Fehlgriff in der Besetzung war Louis Jourdan in der Rolle des Stallknechts. “The Paradine Case” handelt von der Erniedrigung eines vornehmen Anwalts, der sich in seine Mandantin verliebt. Seine Mandantin ist nicht nur eine Kriminelle, sondern obendrein nymphoman, und der Höhepunkt seiner Erniedrigung ist, wenn der Anwalt vor dem Gericht die Heldin mit einem ihrer Liebhaber, einem Stallknecht, konfrontieren muß. Dieser Liebhaber, der Stallknecht, mußte nach Stall riechen, er mußte wirklich nach Mist stinken. Leider hatte Selznick Alida Valli unter Vertrag genommen, die er für eine zweite Ingrid Bergman hielt, und außerdem hatte er Louis Jourdan unter Vertrag, deshalb mußte ich sie nehmen. Das alles hat die Geschichte sehr runtergebracht.
Was den Mord betrifft, der stattgefunden hat, ehe die Handlung beginnt, so habe ich mich da nie ganz festgelegt, weil ich es selbst nie ganz verstanden habe. Die Personen sollten einander begegnet sein auf dem Weg von einem Zimmer zum anderen, auf einem Flur, oberhalb oder unterhalb einer Treppe. Wirklich, die Topographie dieses Hauses habe ich nie recht verstanden, und auch nicht, wie der Mord passiert ist.
Für mich bestand das Interesse des Films darin, eine Frau wie die Mrs. Paradine zu zeigen, die unvermittelt dem Zugriff der Polizei ausgesetzt wird, die Formalitäten, die sie über sich ergehen lassen muß, wie sie zwischen zwei Polizisten das Haus verläßt und zu ihrem Zimmermädchen sagt: “Ich glaube kaum, daß ich zum Abendessen zurück bin.” Dann verbringt sie die folgende Nacht in der Zelle, und sie wird nie mehr herauskommen. Ein Echo davon war in “The Wrong Man” [“Der falsche Mann”]. Ich habe mir immer schon vorgestellt - vielleicht ist das ein Ausdruck meiner Angst -, wie ganz normale Leute plötzlich ihrer Freiheit beraubt und mit Berufsverbrechern in eine Zelle gesperrt werden. Zu zeigen, wie Delinquenten ins Gefängnis abgeführt werden, ist nichts Ungewöhnliches, aber wenn es sich dabei um gesellschaftlich Höhergestellte handelt, ergibt sich ein Farbkontrast, der mich außerordentlich fesselt.
Truffaut: Dieser Kontrast wird durch eine treffende Einzelheit illustriert, wenn Mrs. Paradine im Gefängnis ankommt. Eine Wärterin löst ihr da die Haare und fährt mit den Händen hinein, um sich zu vergewissern, daß nichts darin versteckt ist. Man hat auch den Eindruck, daß Ann Todd in der Rolle der Ehefrau kaum die richtige war.
Hitchcock: Sie ist zu kalt.
Truffaut: Die besten Rollen des Films sind im Grunde die Nebenrollen, der Richter, den Charles Laughton spielt, und Ethel Barrymore, seine Frau. Es gibt gegen Schluß eine sehr schöne Szene, wenn Ethel Barrymore Mitleid zeigt mit Alida Valli, die gehängt werden soll, während sich Laughton als wirklich mitleidlos erweist. An einer anderen Stelle erscheint Laughton eindeutig als Lüstling. Während er aus dem Eßzimmer geht, wirft er einen Blick auf Ann Todds nackte Schulter. Danach setzt er sich neben sie, und ganz kühl, als ob nichts wäre, legt er seine Hand auf die ihre, vor allen Leuten. Das ist mehr als unverschämt, das ist skandalös, und es ist mit viel Gespür gefilmt, so als ob es sich um nichts Besonderes handelte.
Die ganze zweite Stunde des Films ist dem Prozeß gewidmet, und ich kann mir vorstellen, daß dieser zweite Teil, vor Gericht, Sie besonders interessiert hat.
Hitchcock: Ja, sehr, denn die Gegebenheiten des Konflikts waren im ersten Teil gut präsentiert worden, was dem Prozeß von Anfang an eine große Spannung verlieh.
Im Gerichtssaal gibt es eine sehr interessante Einstellung. Wenn Louis Jourdan als Zeuge aufgerufen wird und in den Gerichtssaal kommt, muß er hinter Alida Valli, die auf der Anklagebank sitzt, hergehen. Sie kehrt ihm den Rücken zu, aber ich wollte, man sollte den Eindruck haben, daß sie ihn spürt, nicht daß sie seine Gegenwart ahnt, sondern daß sie ihn riecht, mit der Nase. Deshalb haben wir in zwei Phasen filmen müssen. Die Kamera ist auf Alida Valli gerichtet, und über ihre Schulter hinweg sieht man, ganz hinten auf der Seite, Louis Jourdan hereinkommen, er geht hinter ihr vorbei in den Zeugenstand. Ich habe zuerst den Schwenk um 200 Grad gedreht, der Jourdan zeigt, wie er von der Tür bis hin zum Zeugenstand geht, aber ohne Alida Valli. Dann habe ich die Großaufnahme mit Alida Valli vor der Rückprojektion gedreht, dazu mußte ich sie auf einen Drehstuhl setzen, um den Rotiereffekt zu bekommen. Gegen Ende der Bewegung mußte sie dann aus dem Bild verschwinden, die Kamera mußte genau bei Jourdan sein, wenn er in den Zeugenstand tritt. Das zu drehen war sehr kompliziert, aber sehr interessant.
Truffaut: Der große Moment des Prozesses kommt dann mit der Aufnahme ganz von oben auf Gregory Peck, wenn er den Gerichtssaal verläßt, weil er die Verteidigung seiner Mandantin nicht weiterführen kann.
Ich bin ganz Ihrer Meinung, Laurence Olivier hätte besser gepaßt. Hatten Sie an jemand Bestimmten gedacht für die Rolle von Louis Jourdan?
Hitchcock: An Robert Newton.
Truffaut: Ah ja, sehr gut, das Rohe...
Hitchcock: Und Krallenfinger, wie der Teufel.
Quelle: “Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?” von Francois Truffaut