Am Anfang des nahezu unbekannten tschechischen Films KONEC SRPNA V HOTELU OZON aus dem Jahre 1967 stehen Szenen, die den nuklearen Holocaust, der über die Erde hereinbricht, verdeutlichen sollen, und die gleich zwei Dinge klarmachen. Einerseits, dass es sich bei dem nachfolgenden Film, trotz des Inhalts, der von einer Gruppe Überlebender dieser atomaren Katastrophen handelt, die wie Nomaden auf der Suche nach anderen Menschen durch die verheerte Welt ziehen, sicher um kein reißerisches, actiongeladenes postapokalyptisches Spektakel handeln wird, andererseits, dass wir es mit einer Independent-Produktion zu tun haben, deren Budget nicht besonders hoch gewesen sein kann. Dargestellt wird der Untergang der Zivilisation in ruhigen Aufnahmen verschiedener Örtlichkeiten: das Innere einer Kirche, ein Feld, Wiesen, dazu Stimmen in mehreren Sprachen, die einen Countdown rückwärts zählen, an dessen Ende jedes Mal eine Weißblende steht, die das gesamte Bild wie ein Blitz verschlingt. Das, was folgt, wird diesen simplen, bedrückenden Anfangsaufnahmen mehr als gerecht.
Bei den Überlebenden, die wir in der erste Hälfte des Films bei ihrer tristen Wanderung, die sie auf den Rücken von Pferden bestreiten, durch eine karge Schwarzweißlandschaft begleiten, handelt es sich um junge Frauen, die von einer älteren Frau angeführt werden. Sie ist die Einzige von ihnen, die die alte Welt noch miterlebte. Wie genau sich diese Konstellation ergab, wie die Mädchen zu der Frau stießen, die gesamte Vorgeschichte verrät der Film uns ebenso wenig wie die genaue Anzahl der Jahre, die seit der Katastrophe vergingen. Offensichtlich ist, dass die Frau, die von den Mädchen nur als Alte bezeichnet wird, die Gruppe wie eine strenge Mutter leitet. Die Mädchen vertrauen ihr, lassen sich von ihr zurechtweisen und sich von ihr vorschreiben, wann sie zu rasten und wann sie weiterzuziehen haben. Gesprochen wird in der Gruppe wenig und tiefere Gefühle scheinen gänzlich zum Erliegen gekommen zu sein. Die Mädchen, aufgewachsen in einer Welt, in der keine Daten und Namen mehr etwas zählen, haben sich an ihre Umwelt angepasst, sind rau und wild, angetan mit Schusswaffen und ihre Gesichter emotionslose Masken. Scheinbar seit Ewigkeiten zieht die kleine Gruppe durch die Einöde. Sie ernähren sich von Büchsen konservierter Lebensmittel, die sie unterwegs finden, und kennen keine anderen Menschen als sich selbst. Anfangs läuft ein Schäferhund den Mädchen hinterher. Ein paar von ihnen locken ihn, während sie rasten, näher zu sich, nur um ihn mit Steinen zu bewerfen. Irgendwann genügt ihnen das nicht mehr und eine von ihnen greift zu ihrem Gewehr. Verwundet zuckt und jault das Tier solange bis sie unbeeindruckt zu ihm läuft und ihm mit dem Kolben ihrer Waffe den Schädel einschlägt. Nur selten verlieren sie ihre Teilnahmslosigkeit, die schnell in Grausamkeit umschlägt. Als sie auf einen verlassene Siedlung stoßen und dort lagern, kramt ein Mädchen ein Buch hervor, das sie irgendwo fand oder die ganze Zeit mit sich führte, und liest sich selbst laut daraus vor wie um die Sprache zu benutzen, um ein Band zu einer Vergangenheit zu knüpfen, die sie nie kannte. Ein anderes ist in eine Kirche eingedrungen. Sie klettert bis hoch unters Dach und merkt dann erst, dass sie nicht wieder zurückkann, weil einige Balken unter ihrem Gewicht weggebrochen sind. Die alte Frau steigt hinauf und fordert sie auf, zu springen, streckt ihr die Arme hin. Das Mädchen zittert vor Angst, traut sich schließlich und kommt heil auf der sicheren Seite an. Zärtlich streichelt die Alte ihr über die Wange wie einem Kind, nur um sie dann sofort wieder zu verlassen. Diese liebevolle Geste wirkt wie ein Fremdkörper in der traurigen, verlorenen Welt.
Ein Wendepunkt ist die Begegnung mit einer Kuh, die plötzlich auf einer Wiese vor den Mädchen auftaucht. Erst sind sie sprachlos vor Erstaunen, dann brechen sie in Jubelrufe aus und erschießen das Tier. Selbst der alten Frau stehen Tränen in den Augen, weil sie wahrscheinlich seit Jahren kein frisches Fleisch mehr gegessen haben. Die folgende Szene ist wohl die erschütterndste des gesamten Films. Zwar wurden schon vorher Tiere getötet – eine Schlange, der ein Mädchen den Kopf abreißt, der Schäferhund, den sie aus Spaß erschossen -, allerdings wurden diese Tötungen in demselben ruhigen, unaufgeregten Ton gefilmt, der den gesamten Film bestimmt. In beiden Szenen blieb die Kamera auf Distanz, verweigerte graphische Aufnahmen, sodass es offen bleibt, ob der Hund und die Schlange tatsächlich umgebracht wurden oder ob es der Film nur suggeriert. Dass die Kuh jedoch wirklich stirbt, ist überdeutlich. Die Mädchen zücken ihre Messer, öffnen mit ihnen ihren Bauch, ziehen die Eingeweide hervor, schneiden ihr den Hals durch und versuchen, den Kopf mit Tritten vom Rumpf zu lösen: das alles in einer Intensität, die mich am ehesten an die Schlachtung der Schildkröte erinnerte, die Deodato in seinem über zehn Jahre später entstandenen CANNIBAL HOLOCAUST zeigte. Die alte Frau bleibt als Einzige von dem Blutrausch unberührt, in den die Mädchen verfallen. Glücklich, beinahe entrückt, schaut sie ihnen beim Ausweiden der Kuh zu bis ihr Blick auf ihren Hals fällt, wo sie einen Strick bemerkt. Im selben Moment ertönen Schreie. Ein Mann, unartikulierte Laute ausstoßend, rennt mit wedelnden Armen aus den Büschen und die Mädchen, zu Tode erschrocken, flüchten vor ihm zu ihren Pferden. Sogar ein paar Schüsse geben sie auf ihn ab, ohne ihn zu treffen, bis die Alte sich dazwischen wirft und ihnen befiehlt, damit aufzuhören. Misstrauisch beobachten ihre Schützlinge wie sie sich dem Besitzer der Kuh nähert, zutiefst ergriffen von der Begegnung.
Der alte Mann ist Besitzer des nahen Hotels Ozon, wohnt seit sieben Jahren allein, seitdem sein Neffe, der Letzte seiner Familie, verstarb. Das Hotel ist ein letztes Bollwerk der ehemaligen Zivilisation. Obwohl verfallen und sichtlich in Mitleidenschaft gezogen, hat der alte Mann alles versucht, es instand zu halten und nicht verwahrlosen zu lassen. Er führt die Mädchen durch die Zimmer, erklärt ihnen, was ein Fernsehapparat und ein Schachbrett ist, überglücklich, nicht mehr allein zu sein. Die Mädchen fühlen sich fremd in der Umgebung, die nicht die ist, in der sie aufwuchsen und den Großteil ihres Lebens verbrachten. Ohne ihre Teilnahmslosigkeit und Emotionslosigkeit zu verlieren wandern sie durch das Hotel und betrachten es sich mit dem Wissen, nicht hierher zu gehören. Auch hier bleibt der Film einer, der über das, was seine Protagonisten empfinden, nicht in Dialogen, sondern in kurzen Gesten oder vielsagenden Blicken Auskunft gibt. Längere Gespräche gibt es einzig zwischen der alten Frau und dem alten Mann. Sie fühlt sich schwach, verbringt die meiste Zeit in ihrem Bett. Er leistet ihr Gesellschaft, sie erzählen sich ihre Geschichten. Vor allem auf Suche nach Männern sei die Alte gewesen, sagt sie zu ihm, nach Männern, die ihre Mädchen schwängern und damit das Weiterbestehen der menschlichen Rassen sichern sollten. Irgendwann seien die Lebensmittelkonserven verrostet, ihr Inhalt ungenießbar. Der Alte versichert ihr, und sich selbst, dass das alles nicht so schlimm sei, er kenne ein ganzes Lager voller Konserven, die wie neu seien, ganz offensichtlich eine Lüge. An einem Abend veranstaltet er ein gemeinsames Essen. Am einen Ende des Tischs im Speisesaal sitzt die Alte, am andern der Besitzer des Hotels, dazwischen die Mädchen. Er hat aufgetischt, was er finden konnte, möchte eine Rede halten und stößt bei den Mädchen auf Unverständnis, die ihr Besteck nicht anrühren und das Fleisch mit den Fingern in sich hineinstopfen. Ihre Aufmerksamkeit gewinnt er erst dadurch, dass er ein Grammophon hervorholt. Die Mädchen, die so etwas nicht kennen, sind fasziniert. Zunächst unbemerkt von allen verstirbt die alte Frau in ihrem Sessel. Zu sehr fürchtet der Mann die Einsamkeit, um die Mädchen nicht zum Bleiben bewegen zu wollen. Sie jedoch zeigen sich unbeeindruckt von ihm, fordern nur eine Sache, nachdem sie ihre Pferde sattelten: das Grammophon. Als der Mann sich weigert, es herauszugeben, droht die Situation zu eskalieren…
KONEC SRPNA V HOTELU OZON ist ein Film, der mich überraschte. Scheinbar mit wenig Geld und einer Handvoll Laienschauspieler irgendwo im tschechischen Hinterland nach einem Skript von Pavel Jurácek gedreht, entstand ein Meisterwerk, das problemlos ohne große Neuerungen innerhalb der Story auch exakt in dieser Weise fünfzig Jahre später hätte geschaffen werden können.
Im Mittelpunkt steht die Zerstörung, vor allem die von Kulturen. Die Vätergeneration zerstörte vor etlichen Jahren mit Atomwaffen die Erde, nun zerstört die Kindergeneration, die aus dieser Zerstörung hervorging, die übriggebliebenen Reste der untergegangenen Kultur, weil sie nichts mehr mit ihnen anzufangen weiß. Die jungen Mädchen in KONEC SRPNA V HOTELU OZON sind keine jungen Mädchen mehr, sondern haben viel von wilden Tieren, deren Triebe nur von der alten Frau reguliert werden, die sie anführt. Nach ihrem Tod und dem Fehlen einer solchen Instanz, fühlen sich die Mädchen nicht mehr an die Werte gebunden, die sie ihnen vermittelte und die nie die ihren waren. Natürlich kann man das auf eine politische Ebene heben und behaupten, dass der Film davon handelt, dass die junge Generation (man beachte das Entstehungsjahr 1967) auf die ältere angewiesen sei, und, von ihr losgelöst, zu nichts fähig sei, als alles zu vernichten, was ihr nichts bedeutet. Allerdings denke ich, dass es kein Zufall ist, dass der Film ausgerechnet den nuklearen Holocaust als Grund heranzieht, weshalb die Mädchen überhaupt auf eine solche animalische Stufe zurückgeworfen wurden. Aller Anfang sind die Machtspiele der Erwachsenen, in deren Verlauf die gesamte Welt in den Abgrund gerissen wurde. Die Mädchen selbst, damals noch nicht geboren oder noch Säuglinge, sind unschuldig daran. Ihnen bleibt gar keine andere Wahl, als zu Jägerinnen und Räuberinnen zu werden, wenn sie in der Welt, mit der sie aufgewachsen sind, überleben wollen. Wenn sie von dem alten Mann sein Grammophon fordern oder sich reißerisch über die Kuh hermachen, dann illustriert das nicht, was für einen schlechten Charakter sie haben, sondern ist ihre normale, natürliche Verhaltensweise, die sie von klein auf lernten, um sich auf der Erde behaupten zu können. So wie sie sich untereinander nicht mit ihren Namen ansprechen, so haben auch die Normen und Werte der Vergangenheit keinen Platz mehr in der neuen Welt. Die alte Frau und der alte Mann sind Relikte, die früher oder später sterben müssen. Und daran tragen nicht die Mädchen die Schuld, sondern die, die die Gesellschaft, in der die Normen und Werte Geltung hatten, auslöschten – und damit sich selbst.
Rein filmtechnisch hat KONEC SRPNA V HOTELU OZON mich ebenso begeistert. Die selten eingesetzte Musik ist düster und verzweifelt, die Schauspieler agieren natürlich und ungekünstelt, viele der Landschaftsaufnahmen sind schlicht großartig und die einzige Szene, die aus dem ruhigen Fluss hervorsticht, ist ein wahrer Schlag in die Magengrube, den ich so nicht erwartete. Obwohl er rein inhaltlich viel mit späteren Endzeitfilmen gemein zu haben scheint, wird jemand, der mit den Erwartungen, einen tschechischen MAD MAX zu sehen zu bekommen, an den Film herangeht, ziemlich enttäuscht werden. Alle andern werden den Spätaugust im Hotel Ozon wahrscheinlich so schnell nicht vergessen können.