LKW fährt. LKW fährt um. Einen Polizisten. Hoppla. Das Unglück geschieht in einem viertelstündigen Kurzfilm. "Die Treppe" heißt er. Dennis Knickel, der Regisseur, hatte nämlich eine Vision: „…ein Mann [stößt] mit seinem Hintern die Tür zu einem Treppenhaus auf. Er betritt dieses in gebückter Haltung und zieht eine Leiche hinter sich her. Die Leiche ist mit einer Handschelle an ihn gefesselt." Auf einer Zugfahrt nach Mainz - so ist weiter im Produktionstagebuch zu lesen - ist dieses Gedankenbild wieder allgegenwärtig. Der sich Erinnernde fragt sich, wie es zu solch einer merkwürdigen Situation kommen kann. Antwort: Einem Alkoholsünder, der Kaltblütige genannt (Gerry Jansen), wurden bei einer Verkehrskontrolle Handschellen angelegt. Der Verhaftete meint (direkt zur Kamera gewandt): „Zwei beschissene Bier, wegen so’ner Kacke so’n Aufstand!". Wo er Recht hat, hat er eigentlich Recht. Doch noch bevor Polizeikommissar Andreas Kneller überhaupt einen Satz herausbringt, hat ihn auch schon der LKW erfasst.
Das ersetzt erst mal die kalte Morgendusche: Man ist wach. Man ist aufmerksam. Und man hört darauf folgend den kräftigen, zerstörerischen (und gebührenfreien) Sound der Gruppe Massick (passender Titel des Stücks: "Zur falschen Zeit"). Dazu läuft der Vorspann, parallel zur nächsten Szene montiert, die den Kaltblütigen mit seinem Problem, der am Handgelenk mitgeschleppten Leiche, zeigt. Alles ist akkurat mit der Musik abgestimmt, doch der Höhepunkt des Synchronismus folgt zwischen den Credits-Überschriften "Maske" und "Schnitt" mit einer wirklich gelungenen Schnittsequenz. Nicht lange danach ist es dann soweit; die Vision des Dennis Knickel ist filmische Wirklichkeit: Ein Mann (der Kaltblütige) stößt mit seinem Hintern die Tür zu seinem Treppenhaus auf. Er betritt dieses in gebückter Haltung und zieht eine (artig blutende) Leiche (Polizeikommissar Andreas Kneller) hinter sich her. Die Leiche ist mit einer Handschelle an ihn gefesselt.
Das postvisionäre Geschehen steht nun ganz im Zeichen des bisherigen Verlaufs. Es ist absurd, es ist makaber. Der Kaltblütige will sich jetzt mit seiner Leiche im Schlepptau das Treppenhaus hinaufquälen. Schön angepisst ist er. Gerry Jansen spielt das köstlich. Auf purem Zynismus und lakonischer Ironie fußt "Die Treppe", denn sie präsentiert symbolisch eine befremdliche Gesellschaft, die den Bruch mit der Ethik vollzogen hat. Streifenpolizist Kneller ist kein toter Mensch, er ist nur eine Sauerei. Selbst Kriminaloberkommissar Braun (Jörg Germann), der plötzlich im Treppenhaus neben der einfach nur "Schatz" genannten Noch-Freundin des Kaltblütigen (Ariane Klüpfel) auftaucht, will sich hier nicht recht für den übel zugerichteten Kollegen interessieren. Er hat ihn ja zur Kenntnis genommen.
Mitleidslos und gefühlskalt sind die Figuren kurzum. Kombiniert mit schwarzem Humor lässt sich eine gewisse Affinität zum am meisten abgefeierten, aber auch am erfinderischsten wiederverwertenden Recyclingcenter, Tarantino, nicht gänzlich verhehlen. Denn da ist auch noch dieser typische Überraschungseffekt, die Situationsgroteske, die hier gleich mehrere Höhepunkte feiert. Einer davon ist ein Kopfschuss, urplötzlich kommend; als befänden wir uns in einer Bonnie Situation. Im Unterschied zu Tarantino - bei ihm ist ja alles der nonchalanten zynischen Wirkung untergeordnet - lässt sich in der "Treppe" aus dem Ereignis, dem Überraschungsmoment, allerdings eine Aussage herauslesen. (Die sagt: Wir sind hoffnungslose Vasallen einer unberechenbaren Welt; können vielleicht planen, aber doch nur von Augenblick zu Augenblick leben).
Auch die Sprache trägt indes dazu bei, dass sich aus Dennis Knickels Film etwas Eigenständiges entwickelt. Sie ist frech, bedient sich des Kraftausdrucks. Schatz vermag zunächst nur vulgäre Ein-Wort-Sätze in Richtung Kaltblütigen zu brüllen. Der selbst ist sowieso nur am Fluchen. Und der Kriminaloberkommissar würde ihm sowieso am liebsten, links und rechts, das Ei herausreißen. Das ist witzig, wäre jedoch noch witziger, wäre dieses anarchistisch anmutende Werk weniger durch Theatralik geschmäht, wie sie der Regisseur von seinen Schauspielern forderte. Gerade das Unplanbare und Unberechenbare wirkt "echter", überzeugender, wenn es aus der Improvisation heraus entstanden zu sein scheint. Dagegen wohnt dem Theatralischen naturgemäß eine Konstruiertheit inne, der Knickels Film inhaltlich eigentlich entsagen will. Gerry Jansen löst sich hiervon am stärksten, während Ariane Klüpfel und Jörg Germann um einiges steifer agieren.
Und es gäbe da noch einige andere Ecken unbedingt zu schleifen: denn der Ton ist mangelhaft, die Kameraführung geradeso zumutbar. Auch der zu Beginn noch punktende Schnitt (der irgendwann noch überarbeitet werden soll, ebenso wieder der Ton) büßt mit der Zeit immer mehr an Dynamik ein. Der kompromisslose Zuschauer müsste den Film durchfallen lassen. Professionalität jedoch kann von "der Treppe" auch gar nicht erwartet werden. Der Grund ist Dennis Knickel. Er ist Amateur, das hier sein Debütfilm.
Mit reichlich Ehrgeiz und Hingabe wurde der zweitägige Dreh überhaupt erst ermöglicht: Mithilfe finanzieller Unterstützung der Eltern und Schwestern ließ sich Licht- und Tonequipment mieten und in eine Kamera investieren, die Alex Richter - wie auch Jona Mink (Tonassistent) und Martin Ihm (Polizeikommissar Kneller) ein Freund des Regisseurs - später führen sollte. Die Schauspieler konnten (fast alle) mit Drehbuch und Brief, die Dennis Knickel ihnen unverfroren in die Briefkästen warf, für das Projekt gewonnen werden. Holger Breiner und Assistentin Jessica Schmitt stellten sich außerdem für die Effekte zur Verfügung. Mutter Knickel sorgte fürs Catering. Und schließlich führen die Spuren des wahren Mörders zur Alzeyer Spedition Klamberg: Thorsten Klamberg fährt LKW. Fährt im Film Polizeikommissar Kneller um.
Das ursprünglich als Bewerbungsfilm für die Filmhochschule gedachte Projekt konkurrierte in Kurzfilmwettbewerben mittlerweile recht erfolgreich mit ästhetischeren Arbeiten diverser Filmakademiker. Erreicht wurde dies mit einer Filmcrew, die sich abgesehen von kleinen Aufwandsentschädigungen für Ton- (Marc Schneider) und Lichttechniker (H.B., 75, 50 Jahre Berufserfahrung als Kameramann) völlig unentgeltlich an der Verwirklichung von Dennis Knickels Vision beteiligte. Man hört und staunt. Es gibt noch Idealisten in diesem Land.