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von Stefan M

Interview Truffaut/Hitchcock

Truffaut: Sprechen wir nun über „The Lady Vanishes“ [„Eine Dame verschwindet“]. Man kann ihn in Paris sehr oft sehen, und es kommt vor, daß ich ihn mir zweimal in einer Woche anschaue. Und jedesmal sage ich mir: Da ich ihn ja auswendig kenne, werde ich mich nicht um die Geschichte kümmern, ich werde nur auf den Zug achten. Ob der Zug sich bewegt. Wie die Rückprojektionen sind. Ob es in den Abteilen Kamerabewegungen gibt. Und jedes Mal bin ich wieder so gefesselt von den Personen und der Handlung, daß ich immer noch nicht weiß, wie der Film gemacht ist.

Hitchcock: Er ist 1938 in dem kleinen Islington-Studio entstanden, in einem Atelier von dreißig Metern Länge, mit einem einzigen Eisenbahnwagen, alles andere ist mit Rückprojektionen und Modellen gemacht. Technisch gesehen, war das ein sehr interessanter Film. Ich hatte zum Beispiel die bekannte Szene um ein Getränk, in das man ein Schlafmittel getan hat. Was macht man gewöhnlich in so einem Fall? Man hilft sich irgendwie mit dem Dialog. „Hier, trinken Sie das.“ „Nein, danke.“ „Aber es wird Ihnen bestimmt guttun.“ „Jetzt nicht, vielleicht später.“ „Aber, bitte.“ „Sie sind zu freundlich.“ Und der Betreffende nimmt das Glas, führt es zum Mund, zögert, stellt es wieder hin, nimmt es wieder, beginnt von neuem zu sprechen, ehe er trinkt. Ich habe mir gesagt, so werde ich es nicht machen, versuchen wir mal etwas Neues. Ich habe einen Teil der Szene zwischen den Gläsern durch fotografiert, damit das Publikum sie ständig sieht, aber erst am Schluß der Szene haben die Personen die Gl!

äser berührt. Ich hatte dafür besonders große Gläser herstellen lassen.

Ich arbeite heute häufig mit vergrößerten Requisiten. Das ist ein guter Trick, nicht? Zum Beispiel die Riesenhand in „Spellbound“ [„Ich kämpfe um dich“]. [...]

Truffaut: [...] Das Drehbuch war ausgezeichnet.

Hitchcock: Ja, von Sidney Gilliat und Frank Launder. Aber denken wir mal einen Augenblick an unsere Freunde, die Wahrscheinlichkeitskrämer. Sie könnten sich fragen, weshalb die Botschaft einer alten Dame anvertraut wird, die jeder ohne weiteres niederschlagen kann. Weshalb schicken diese Leute von der Spionageabwehr ihre Botschaft nicht mit einer Brieftaube? Wenn man bedenkt, welche Mühe sie sich gemacht haben, die Dame in den Zug zu bringen, mit soviel Komplizen rundherum, sogar mit einer Frau, die bereitsteht, mit ihr die Kleider zu tauschen, ganz zu schweigen davon, daß man den Wagen abhängt und im Wald verschwinden läßt.

Truffaut: Noch dazu, wenn man bedenkt, daß die Botschaft einfach aus den ersten fünf oder sechs Takten eines Liedes besteht, die die alte Dame behalten muß. Das ist lächerlich und wirklich hübsch.

Hitchcock: Ein Hirngespinst, ein reines Hirngespinst. Wissen Sie eigentlich, daß dieselbe Geschichte drei- oder viermal verfilmt worden ist?

Truffaut: Meinen Sie, man hat Remakes davon gemacht?

Hitchcock: Nein, keine Remakes, sondern Geschichten nach demselben Prinzip, nur in verschiedener Form. Allem zugrunde liegt eine Geschichte, die 1889 in Paris passiert sein soll. Eine Frau kommt mit ihrer Tochter in Paris an. Sie steigen in einem Hotel ab. Da wird die Mutter krank. Der Arzt kommt, untersucht die Frau, nimmt den Hotelbesitzer beiseite und redet mit ihm. Dann sagt er zu der Tochter: „Ihre Mutter braucht bestimmte Medikamente“, und schickt sie mit einer Kutsche ans andere Ende von Paris. Als sie nach vielleicht vier Stunden zurückkommt und fragt: „Wie geht es meiner Mutter?“, antwortet der Hotelier: „Welcher Mutter? Wir kennen Sie nicht. Wer sind Sie?“ Das Mädchen sagt: „Meine Mutter ist in dem und dem Zimmer.“ Man führt sie zu dem Zimmer, aber da wohnen ganz andere Gäste, die Möbel stehen nicht mehr am selben Platz, und die Tapeten sind anders. Nach diesem Prinzip habe ich auch einen Halbstundenfilm fürs Fernsehen gemacht, und die Rank hat mit Jean Simmons ein!

en Film mit dem Titel „So Long at the Fair“ produziert. Der Witz bei dieser angeblich wahren Geschichte ist, daß sie zur Zeit der großen Weltausstellung passierte, damals, als der Eiffelturm gebaut wurde. Die beiden Frauen kamen aus Indien, und der Arzt merkte, daß die Mutter die Pest hatte. Da hat er gedacht, wenn sich das rumspräche, käme es zu einer Panik und alle Touristen, die zur Ausstellung gekommen waren, würden abreisen. Das war der Grund.

Truffaut: Geschichten dieser Art sind meist am Anfang recht aufregend, aber dann flauen sie ab, und meistens wird es, wenn es zur Aufklärung kommt, fürchterlich. Beim Finale von „The Lady Vanishes“ gibt es diese Enttäuschung nicht, es ist ausgezeichnet. Das Drehbuch war wirklich gut.

Hitchcock: Dem Film lag ein Roman von Ethel Lina White zugrunde, „The Wheel Spins“, und Sidney Gilliat und Frank Launder, die sehr begabt sind, haben das erste Drehbuch geschrieben. Ich habe ein paar Änderungen gemacht, und wir haben die allerletzte Episode hinzugefügt. Für die Kritiker war es vor allem ein Hitchcock-Film, und das hat Launder und Gilliat dazu gebracht, von da an ihre eigenen Produzenten und Regisseure zu werden. Kennen Sie ihre Filme?

Truffaut: Einen, der ziemlich mißlungen war, „Green for Danger“. Ein anderer war interessanter, „I See a Dark Stranger“. Aber der beste war kein Thriller, sondern „The Rake’s Progress“ mit Rex Harrison.

Quelle: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ von Francois Truffaut, Heyne-Verlag

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