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Zwar ist „The Lodger“ nach „The Pleasure Garden“ (1925) und „The Mountain Eagle“ (1926) Alfred Hitchcocks drittes Werk, aber er selbst gab später im Interview mit Francois Truffaut an, dies sei der „erste echte Hitchcockfilm“. In der Tat haben wir es hierbei mit seinem berühmtesten Werk aus der Stummfilmzeit zu tun, beinhaltet es doch bereits sein Lieblingsthema, das in den folgenden Jahren und Jahrzehnten viele seiner Skripte beherrschen sollte: Ein Mann wird eines Verbrechens verdächtigt, das er nicht begangen hat.

In diesem Fall handelt es sich bei dem Mann um den titelgebenden und namenlos bleibenden Mieter (der populäre Ivor Novello), der sich bei der Londoner Durchschnittsfamilie, den Buntings, einnistet, in deren unmittelbarer Nähe ein Serienmörder (der „Avenger“) umgeht: Abgesehen hat er es ausschließlich auf blondgelockte Frauen. In das Schema passt auch die Tochter des Hauses Bunting, Daisy (June Tripp). Sie verliebt sich in den rätselhaften Mieter. Als eine weitere Frau getötet wird, zieht er den Verdacht von Mrs. Bunting (Marie Ault) auf sich, weil sie mitbekommen hat, wie der Mieter in der Mordnacht heimlich das Haus verließ. Fortan macht sie sich große Sorgen um Daisys Leben...

Die Vorlage für das Drehbuch lieferte Marie Adelaide Lowndes mit einer populären Kriminalgeschichte von 1913, basierend, wie sich leicht am Inhalt und am Nebentitel („A Story of the London Fog“) ablesen lässt, auf den Untaten des berühmt-berüchtigten Jack the Ripper - eine Geschichte, die Hitchcock aufgrund seines großen Interesses für Kriminalfälle und Mordprozesse sofort angesprochen haben dürfte. Im Gegensatz zu allen anderen seiner noch folgenden Filme mit der Thematik des Unschuldigen, der durch die Verkettung unglücklicher Umstände für einen Mörder gehalten wird, lässt Hitchcock bei „The Lodger“ fast bis zum Finale offen, ob der Mieter etwas mit den Greueltaten zu tun hat oder nicht. So wird die Spannung nicht etwa aus der Frage gewonnen, wie er sich aus seiner bedauernswerten Lage befreien kann - immerhin bekommen wir fast eine ganze Stunde lang überhaupt keine Hintergründe des seltsamen Fremden geliefert -, sondern ob Daisy in Lebensgefahr ist. Nicht der Mieter ist die Identifikationsfigur, nein, vielmehr teilt der Zuschauer alsbald die Angst der Eltern um ihre Tochter Daisy und schlägt sich auf deren Seite. Das ändert sich erst wieder zum Schluss, als wir erfahren, warum der Mieter sich ausgerechnet hier in London einquartiert hat, und dass der wirkliche Täter (den wir nie sehen) ein ganz anderer ist.

Was Hitchcocks ersten Thriller noch nach achtzig Jahren enorm faszinierend erscheinen lässt, ist die Fülle der visuellen Ideen, die darin stecken. In punkto Ausleuchtung und mit ihren Schattenspielen weckt die durchgehend düstere, phasenweise regelrecht alptraumhafte Züge annehmende Atmosphäre zwangsläufig Assoziationen an die großen Filmklassiker des deutschen Expressionismus (allen voran „Das Kabinett des Dr. Caligari“) und zeigt eindrucksvoll, welch enormen Eindruck diese seinerzeit auf Hitchcock gemacht haben. Sofern man den Willen mitbringt, sich von der Stimmung mitreißen zu lassen, kann der Film durchaus heute noch ein gerütteltes Maß an Unbehagen auf den Zuschauer übertragen.

Symptomatisch für Hitchcocks Experimentierfreudigkeit ist die Berühmtheit erlangt habende Szene, in der Familie Bunting in der Wohnung steht und an die Decke schaut, weil sie hört, wie der Mieter oben in seinem Zimmer auf- und abgeht. Anstatt dies mit den damals üblichen Dialog-Zwischentiteln zu verdeutlichen, ließ Hitchcock einen Boden aus sehr dickem Glas anfertigen, über den man den Mann mit seinen Schuhen herumgehen sieht. Damit war es dem Regisseur gelungen, ein Geräusch bildhaft darzustellen, die Einschränkungen, die ein Stummfilm nun mal bietet, wenigstens kurzzeitig zu umgehen.

Von den Produzenten wurde „The Lodger“ bei Erstbesichtigung als „so grauenhaft, dass wir ihn ins Lager geben werden und ihn ganz einfach vergessen wollen“ bezeichnet, weshalb Hitchcock gezwungen war, unter starker Mithilfe von Cutter Ivor Montagu einige Szenen neu zu drehen und die Anzahl der Zwischentitel deutlich zu verringern. Resultat: Einige Journalisten der Fachpresse schrieben, dass dies der beste britische Film sei, der je gedreht worden wäre. Dagegen hatte Hitchcock sicherlich nichts einzuwenden, auch wenn er persönlich es lieber gesehen hätte, wenn der Film offen geendet wäre. Das war jedoch undenkbar, da man dem Kinogänger nicht Publikumsliebling Ivor Novello als Bösewicht zumuten wollte - ein Problem, mit dem er 15 Jahre später in „Verdacht“ ein zweites Mal zu kämpfen haben sollte.

Bliebe also letztendlich zu sagen, dass der Film fraglos ein höchst interessantes Zeitdokument ist mit einer recht dünnen und überaus simplen Handlung (und Ivor Novello als Mieter macht sich in meinen Augen mit seinem merkwürdigen Verhalten vor Bekanntgabe seiner wahren Motivation schon fast ZU verdächtig), zeichnet sich aber durch einige bemerkenswerte Kameraeinstellungen, eine beunruhigende Atmosphäre, angenehme Spannung aus und trägt bereits überdeutlich Hitchcocks Handschrift. 8/10.

(Originalartikel auf www.kinetoskop.de)

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