Welche transgressiven Filme sind zeitlose Klassiker, Filme, die 2007 noch genauso verstören wie im Erscheinungsjahr? Die Sünderin und Das Schweigen wurden spätestens durch die 68er-Bewegung entzaubert. Holy Mountain, wie originell/original und stellenweise prophetisch er auch sein mag, wird von Leuten, die mit Punkrock erwachsen wurden, nicht ganz zu Unrecht als Hippiedreck bezeichnet und sogar Tetsuo wirkt heute, knapp 20 Jahre danach, reichlich altbacken. Dawn of the Dead und Evil Dead sind nur für Mitdreißiger-Pubertäts-Nostalgiker wie mich von Bedeutung. Selbst Klassiker-aufgeschlossene 18jährige können sich heute beim Anblick der grünen Torkel-Zombies und dem bunten Latex-Schluß-Gematsche von Tanz der Teufel nicht eines mitleidigen Lächelns erwehren. Und Asien-Kasperle-Theater wie Untold Story oder Men behind the Sun fallen aufgrund ihres filmischen Dilettantimus sowieso durch. Mal ganz zu schweigen von Filmen, die das Zeug zu Klassikern hätten, sich aber durch ihren extremen Herstellungszeit-Bezug ins Olymp-Off geboxt haben, siehe Terminator2 (hat zwar mit transgressiv nix zu tun, aber das mußte einfach rein): Da fehlt schon seit 1993 der Echt-schocke-Tschüssikowski-Anti-Edward-Furlong-Cut.
Was bleibt also zeitlos transgressiv? Eigentlich nur Filme die per se in der Vergangenheit angesiedelt sind und/oder Filme in (fast) geschlossenen Räumen, ganz einfach weil die Veränderung der Außen-Umwelt nicht an ihnen nagen kann. Zu ersteren würde ich Salo, Tras el Cristal und Singapore Sling zählen, zum zweiten Embryo hunts in Secret, Night of the Living Dead (den man leider auch aufgrund des Popkultur-Overkills nur noch bedingt zählen kann) und Eraserhead. Ersterer wurde vier Jahre nach Das Schweigen bzw. zwei Jahre vor Night gedreht und ist bis heute noch nicht einmal mit englischen Untertiteln aus Japan exportiert worden (ich hab mir Super-Nerd-mäßig die Untertitel aus dem Netz geholt).
Ein Manager mit einem ausgeprägten Mutterkomplex hält seine Angestellte über Tage (oder Wochen) als Sexsklavin, fesselt und peitscht sie, mißhandelt sie mit Rasierklingen und läßt sie wie einen Hund an der Leine nackt durchs Zimmer kriechen, bis sie sich schließlich befreien kann und ihn absticht.
Was sich bei einer nüchternen Inhaltsangabe anhört wie gefundenes Fressen für Emma-LeserInnen, ist jedoch eher eine erschütternd nihilistische Studie männlicher Einsamkeit und Verlorenheit, sozusagen Der letzte Tango in Paris, reduziert bis aufs Mark.
Ein Mann, der niemals geboren werden wollte, sich sogar sterilisieren ließ, um selbst keine Kinder zu zeugen; dessen Frau sich deshalb künstlich von jemand anderen befruchten ließ und ihn schwanger verließ. Ein Mann, der am liebsten ein Embryo geblieben wäre, aus Feigheit vor der Welt, und der jetzt seine ganze soziale und sexuelle Unfähigkeit an seiner Untergebenen ausläßt. Während der Mißhandler im Laufe seiner Demütigungen sogar so schwach wird, daß ihn die Mißhandelte in ihrem Schoß mit Kinderliedern in den Schlaf singt, wächst in ihr immer mehr die Überlegenheit ihm gegenüber und der Schlußmord ist weniger Rache als Erlösung, für beide.
Daß die vorhandenen Exploitation-Zutaten nicht ins Bodenlose abgleiten, verhindert Wakamatsu mit einer soliden, schauspielerisch erschreckend glaubwürdigen Inszenierung, sowie perfekter Kameraarbeit.
Formal überrascht nämlich der 72minütige Film, gedreht in Schwarz-Weiß und CINEMASCOPE(!) mit ruhigen, fast zärtlich klaren Bildern: Oftmals wird in statischen Einstellungen nur ein Viertel des Formats genutzt, der Rest ist weiße Wand. Desweiteren Godard´sche Nouvelle-Vague-Reminiszenzen und der stimmige Einsatz klassischer Musik, die sich abwechseln mit sogar für heutige Verhältnisse extrem sadistischen, das Exploitation-Kino der Siebziger vorwegnehmenden, Mißhandlungsszenen.
Ein extrem intensives, transgressives Zwei-Personen-Stück, das man ähnlich wie Salo nur einmal alle zehn Jahre ertragen kann und das wie oben erwähnt zeitlos bleiben und hoffentlich endlich auch vom Westen als Kunst anerkannt wird
PS: Embryo war Wakamatsus erster Film nach der Gründung seiner eigenen Produktionsfirma. Natürlich wollte er damals die Zensoren schocken, um Publicity zu kriegen, was ihm damals in Japan nicht ganz gelungen ist, doch angeblich ist der Film vor kurzem in Frankreich bei Zootrope erschienen und hat dort gehörigen Ärger mit der Freigabe-Frage: Pornographie oder Kunst? Nicht schlecht für einen Film, der über VIERZIG Jahre alt ist. Oder andersrum: War der Film seiner Zeit so weit voraus, daß seine Zeit noch gar nicht gekommen ist? Bei Peeping Tom hats immerhin „nur“ 20 Jahre gedauert. Oder (selbstkritisch gesehen): Wird jemand eine ähnliche Kritik 2025 über Guinea Pig schreiben?
Review-Grundlage:Japanische Original-DVD