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Jean-Paul Civeyrac scheint nichts von ungeschriebenen Regeln und Gesetzen zu halten. Anders ist es nicht zu erklären, dass er mit À TRAVERS LA FORÊT einen hochgradig subjektiven und artifiziellen Film abliefert, der sich im Grunde in kein Schema pressen lässt, sich still und leise allem widersetzt, eine Art geflüsterte Revolte. Nicht nur die Laufzeit von gerade mal einer Stunde, sondern auch die äußerst spezielle Inszenierung wie auch die Story an sich verfolgen ihren ganz eigenen Stil, ohne den geringsten Anbiederungsversuch an festgefahrene Formen der Filmsprache. Vielmehr erfindet, was selten genug vorkommt, Civeyrac seine eigene Sprache der Bilder. À TRAVERS LA FORÊT ist unterteilt in zehn Kapitel, von denen jedes aus nur einer einzigen Aufnahme besteht. Einmal eingeschaltet folgt die Kamera den Protagonisten dicht auf den Fersen, Schnitte finden sich nur zwischen den Kapiteln, wenn eins ins andere überleitet, meist befindet sich die Kamera so nah wie möglich an den Schauspielern, auf Totaleinstellungen wird weitgehend verzichtet, der Zuschauer befindet sich mitten im Geschehen: eine Erzählform, die einen am ehesten an manchen Film des ungarischen Regisseurs Miklós Jancsó denken lässt, auch wenn Civeyrac rein inhaltlich ganz andere Wege beschreitet. 

Im Zentrum des Films steht die junge Armelle, die im namenlosen Prolog mit ihrem Freund Renaud eines Morgens beim Aufstehen gezeigt wird. Ungemein zärtlich fängt der Regisseur den Moment zwischen den Liebenden ein, wenn Renaud sich in den Kissen verkriecht und nicht so recht aufwachen will, Armelle und er verbale Liebkosungen austauschen und sie schließlich einen Song für ihn anstimmt, während sie in den Sonnenstrahlen badet, die das Zimmer durchs Fenster fluten. Plötzlich allerdings verfinstert sich der Himmel: es wird dunkel und Renaud ist spurlos verschwunden, Armelle bleibt allein zurück, ruft verunsichert, dann verzweifelt, schließlich resignierend seinen Namen. 

Renaud, das erfahren wir im ersten Kapitel, das aus einem Dialog zwischen Armelle und ihren beiden Schwestern besteht, ist bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen und Szenen wie diese, deren Zeugen wir eben wurden, finden nach seinem Tod zwischen den Liebenden statt. Für eine von Armelles Schwestern ist der Fall klar: sie solle endlich akzeptieren, dass Renaud tot ist, eine Therapie machen, aufhören, sich in ihre vermeintlichen Geistererscheinungen hineinzusteigern. Beinahe schon spöttisch tut sie Armelles Berichte von den regelmäßigen Besuchen Renauds ab. Armelle selbst ist unsicher. Einerseits möchte sie daran glauben, dass sich das alles nur in ihrer Phantasie abspielt, dass der Renaud, der sie immer wieder aufsucht, nur ihrer unverarbeiteten Trauer entspringt, andererseits scheinen ihr seine Besuche derart real, dass es ihr schwer fällt, sie einfach als Hirngespinste abzutun. Sie will Gewissheit erlangen. Zusammen mit ihrer jüngeren Schwester lässt sie sich auf eine Séance ein, abgehalten von einer älteren Dame, die behauptet, mit Verstorbenen in Kontakt zu stehen. Wie ein griechisches Orakel stößt sie rätselhafte Sätze aus, wenn sie von einem jungen Mann vor die Gäste ihrer Séance geführt wird, die dieser dann für die Uneingeweihten deutet. Die Séance an sich läuft unbefriedigend für Armelle ab, doch lernt sie bei ihr einen Jungen namens Hippolyte kennen, der Renaud wie aus dem Gesicht geschnitten ähnelt… 

À TRAVERS LA FORÊT verlässt schon früh den Boden jedweden Realismus. Civeyrac konzipierte seinen Film wie einen Mythos, ein Gedicht, das man gar nicht entschlüsseln kann, sondern das nur auf diese enigmatische Art und Weise erlebbar ist. Rein inhaltlich mag man zu der poetischen Geschichte über Trauer und Verlust stehen wie man will, Civeyrac schafft es, am laufenden Band Wunder zu präsentieren, die er so alltäglich, sachlich und nüchtern schildert, dass sein Film nie ins Lächerliche abrutscht oder man gar nicht erst beginnt, nach einer realistischen Erklärung des Ganzen zu fragen. Wenn Armelle einen Selbstmordversuch unternimmt und danach über übersinnliche Kräfte zu verfügen scheint, dann folgt das ganz der inneren Logik des Films und wirkt nie aufgesetzt oder albern, vor allem eben, da Civeyrac es in seiner ruhigen Filmsprache schildert, als ob es eine ganz normale Begebenheit sei: es ist eben so und alle Fragen sind fehl am Platz. 

À TRAVERS LA FORÊT ist zu gleichen Zeiten ein leichter und ein schwerer Film. Schwer lastet natürlich das Schicksal auf Armelle. Ihre Selbstmordszene ist an emotionalem Gehalt kaum zu überbieten. Leicht sind hingegen die Liebesszenen zwischen ihr und Renaud/Hippolyte, die wirken, als würde ein echtes Liebespaar und keine Schauspieler heimlich bei ihren intimsten Momenten gefilmt werden. Was Camille Berthomier, die seither nur in einem weiteren Film auftrat, mit ihrem stillen Schauspiel aus der Figur der Armelle herausholt, fand ich ebenso sensationell wie die Schlichtheit, mit der Civeyrac seinen Film zu einem optischen Genuss werden lässt. Rein von der Optik her musste ich mehrmals an die besten Arbeiten Dario Argentos denken, auch wenn beide Regisseure ansonsten überhaupt keine gemeinsame Schnittmenge haben, und Civeyrac wesentlich minimalistischer vorgeht, seinen Film nicht mit Prunk und Pomp überlädt, sondern die teilweise unglaublichen Farben und Bildkompositionen wie beiläufig abhandelt, so, als seien sie nichts Besonderes. 

Das gilt überhaupt für die gesamte Stunde Laufzeit. Der Film übt sich in Bescheidenheit, obwohl er das nicht müsste. Da lässt Civeyrac Amelle zu Beginn ein Liedchen singen, das er selbst für seinen Film komponierte, und berührt damit gerade wegen der Beiläufigkeit, mit der das geschieht, ungemein. Da folgt die Kamera der Protagonistin minutenlang durch einen einsamen Wald und liefert die phantastischsten Bilder und subtilsten Emotionen. Da erklingt ganz zum Schluss The Unanswered Question von Charles Ives und treibt einem Tränen in die Augen. Und der Film, so scheint es, kehrt all diese grandiosen Momente unter den Tisch, bleibt schlicht und still. Wie ein Flüstern, das eine Revolte auslöst.

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