Review

Wenn man mal etwas über den seltenen Film LITTLE RED RIDING HOOD liest, dann sind die Rezensenten meist überschwänglich in ihrem Lob. Dass ich in dem nicht mal zwanzigminütigen Werk kein Meisterwerk sehe, liegt wohl an rein subjektiven Gründen, denn ich kann durchaus nachvollziehen, weshalb jemand über alle Maßen von dem Kurzfilm begeistert ist. Allerdings kann ich mir auch vorstellen, dass jemand LITTLE RED RIDING HOOD mit noch weniger Punkten als ich bewertet.

Wie der Titel schon andeutet handelt es sich bei dem Film um eine weitere Adaption des altbekannten Rotkäppchen-Märchens, allerdings nimmt David Kaplan nicht etwa die hierzulande kursierende Grimmsche Fassung der Geschichte zur Vorlage, sondern die wesentlich ältere französische von Charles Perrault, in der das Märchen auf ein Happy-End verzichten muss (ein Jäger, der Großmutter und Rotkäppchen schlussendlich aus dem Wolfsmagen rettet, fehlt hier komplett), dafür aber mit einigen unterschwelligen sexuellen Anspielungen versehen wurde. So steht das Rotkäppchen bei der berühmten Unterhaltung mit dem Wolf, den es für seine Großmutter hält, bei Perrault nicht etwa neben dem großmütterlichen Bett, sondern wird vom Wolf dazu eingeladen, sich nackt zu ihm unter die Decke zu kuscheln. Kaplan hält sich eng an den Text, eine Erzählerstimme aus dem Off untermalt die Bilder im Stil eines Großvaters, der aus einem Märchenbuch vorliest. Seine Stimme ist auch die einzige, die im gesamten Film ertönt. Wenn die vier Charaktere, der Wolf, Rotkäppchen, die Großmutter und die Katze der Großmutter, etwas zu sagen haben, bewegen sie zwar die Lippen, doch es ist der Erzähler, der ihnen die Dialoge abnimmt und sie an ihrer Stelle vorträgt.

LITTLE RED RIDING HOOD ist optisch eine Pracht. In klaren Schwarzweißbildern in einem Wald gedreht lässt der Film erahnen, dass Kaplan kein besonders hohes Budget zur Verfügung stand, aus dem er jedoch alles herausholte. Die einzige Kulisse, das Haus der Großmutter, ist schlicht, jedoch recht phantasievoll in Szene gesetzt. Einen großen Stellenwert nimmt die Musik ein, die in jeder Szene zu hören ist und noch mehr als der Erzähler wie ein Kommentar zu den Bildern funktioniert. Im Stil von alten Disney-Filmen gibt ein Orchester hier alles und überschreitet quasi pausenlos sich dessen vollkommen bewusst die Grenze zu Kitsch und Pathos. Dass es Kaplan nicht um Realismus ging, sondern dass er das Märchenhafte der Erzählung unbedingt beibehalten wollte, zeigt sich nicht nur an der pompösen, effekthascherischen Musik, sondern auch an der Gestaltung seiner vier Figuren. Während das Rotkäppchen, dargestellt von einer jungen Christina Ricci, und die Großmutter Menschen aus Fleisch und Blut sind, stehen der Wolf und die Katze in starkem Kontrast zu ihnen. Die Katze, die versucht, Rotkäppchen davor zu warnen, dass es nicht ihre Großmutter ist, die dort im Bett auf sie wartet, ist eine äußerst billige, verlauste Handstoffpuppe, die trashig oder naiv zu nennen noch untertrieben wäre. Der Wolf indes sprengt alle Grenzen. Bei ihm handelt es sich um einen jungen Mann, dessen gesamten Körper man mit Fell beklebte, bis auf das Gesicht, aus dem einen mit unheimlichen Kontaktlinsen verfremdete Augen entgegenschauen. Spitze Ohren ragen aus dem Pelz heraus und seine Finger enden in scharfen Krallen. Dieser Wolf ist nun nicht etwa ein Geschöpf wie aus einem Horrorfilm, sondern trägt meist einen zutiefst melancholischen Blick zur Schau, ist verletzlich und offenbar wirklich in Rotkäppchen verliebt. Er hat nicht vor, sie zu verspeisen, sondern möchte sie in das Bett locken, um mit ihr den Beischlaf zu vollziehen. Nachdem Rotkäppchen sich mit einer List aus dem Bett rettete (sie gibt vor, dringend für kleine Mädchen zu müssen), und er begreift, dass sie ihn austrickste, spürt er echten Verlustschmerz und stimmt ein elegisches Ballett vor der Hütte an. Überhaupt springt, hüpft, wirbelt der Wolf andauernd umher. Der Waldboden wirkt wie eine Bühne, auf der er spontane Pirouetten und Tanzchoreographien vollführt. 

So schräg die Umsetzung auch sein mag, inhaltlich hat sich Kaplan voll und ganz auf den Originaltext verlassen. Besonders gut gefiel mir wie er die subtile Erotik zum Ausdruck bringt, die die Vorlage durchzieht. Der Film wird nie offen sexuell, belässt es bei Andeutungen, bei einer knisternden Grundstimmung. Christina Ricci hat selten so wunderschön ausgesehen wie hier, und eine erotischere Szene als die, in der sie aus ihrer Kleidung schlüpft, und bei der die Kamera ausschließlich ihre nackten Füße anvisiert, die sich gegenseitig mit den Zehen reiben, muss man erstmal finden.  

Dennoch fehlt mir dafür, LITTLE RED RIDING HOOD ein Meisterwerk zu nennen, ein letzter ausschlaggebender Impuls. Rein persönlich habe ich das Werk als netten, unterhaltsamen, poetischen Kurzfilm empfunden, nicht mehr und nicht weniger. Für Fans von Christina Ricci, versponnenen Märchenadaptionen und Unkonventionellem ist der Film allerdings Pflichtprogramm.

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