Review

Fantasia ist ungewöhnlich. Es gibt keine Charaktere, keine echten Dialoge (bis auf ein kurzes Geplänkel zwischen Micky Maus und Leopold Stokowski), ja nicht einmal eine durchgehende Handlung. Und das ist auch verdammt noch mal gut so!
Fantasia ist ein Musik- pardon, ein Konzertfilm, in dem acht klassische Musikstücke mit kurzen filmischen „Begleitungen“ untermalt werden, getrennt von kurzen Kommentaren, die als Bindeglieder dienen. Im Folgenden möchte ich auf jeden dieser acht Kurzfilme eingehen.

Johann Sebastian Bach
Toccata und Fuge in d-moll (Orchesterversion)
Die Visualisierung dieses Werkes beginnt noch recht zaghaft, wahrscheinlich, um das Publikum langsam an das Konzept zu gewöhnen. Anfangs sieht man noch die Silhouetten des Dirigenten und der Musiker, kunstvoll ausgeleuchtet, doch nach etwa einem Drittel, beginnt die wahre Kunst. Ein Funkeln, das genau der Melodie folgt, Linien, die den Klanggebilden entsprechen, Wüstenlandschaften, Himmelsgebirge, ein abstraktes, kaum beschreibbares Gebilde nach dem Anderen, bis am Ende wieder Leopold Stokowski die Letzten Takte dieses Segments dirigiert.
Dieses Stück steht nicht wirklich stellvertretend für Fantasia, dennoch geht von den unwirklichen Gebilden eine sonderbare Faszination aus, die bereits an den Bildschirm fesselt.

Pjotr Iljitsch Tschaikowski
Nussknacker-Suite
Hier erhalten wir endlich etwas greifbares: Zu einer Melodie, die nun wirklich jeder kennen sollte, erwecken Feen, eine Spur von Feenstaub hinter sich herziehend, einen Wald zu morgendlichem Leben, lassen Blüten aufblühen und dekorieren ein Spinnennetz mit Tautropfen; alles handgezeichnet (wir haben schließlich 1940).
Es folgt ein kurzer von Pilzen vorgeführter Tanz, und auch hier haben wir so eine Melodie, die jeder kennt. Ich mag das Wort „knuffig“ eigentlich nicht, aber hier passt es wirklich hervorragend.
Als nächstes werden wir Zeugen, wie Blüten sanft auf eine Wasseroberfläche herabfallen, ein wenig darauf treiben, sich „umstülpen“ und auf einmal frappierende Ähnlichkeit mit Tänzerinnen auf einem Ball haben und selbstverständlich auch so tanzen. Dass jeder die Melodie kennt, muss ich wohl nicht erwähnen.
Nachdem die Blüten einen kleinen Wasserfall hinuntergespült wurden (wer hätte gedacht, dass ich einmal Mitleid mit Blüten haben könnte) finden wir uns unter der Wasseroberfläche wieder. Hier sind diesmal Fische an der Reihe, zu einer weniger bekannten, aber nicht minder schönen Melodie einen Tanz darzubieten. Das alles in einer herrlich ruhigen Athmosphäre, die in einem sanften Decrescendo ausklingt und man gemütlich in seinem Sessel zusammensinkt...
...um sofort wieder gerade zu sitzen, als eine Reihe von Blumen plötzlich einen russischen Volkstanz beginnt, der dann auch in das Ende dieses Segments mündet.

Paul Dukas
Der Zauberlehrling
Es folgt das bekannteste Stück aus Fantasia, in dem uns Micky Maus als titelgebender Zauberlehrling präsentiert wird. Sowohl der Kurzfilm, als auch das Musikstück basieren auf Goethes gleichnamigen Gedicht, in dem ein Zauberlehrling (Wer hätte das gedacht?) in Abwesenheit seines Meisters einen Besen verhext, auf dass dieser ihm seine Kräftezehrende Aufgabe (Wassereimer für’s Bad anschleppen) abnehme. Der Besen erfüllt seine Aufgabe, fehlerfrei, abgesehen davon, dass er einfach nicht aufhören will, immer mehr Wassereimer heranzutragen. Selbst, als der Lehrling den Besen mit einem Beil halbiert, stehen beide Teile auf um ihr Treiben fortzusetzen. Der Lehrling ist am Verzweifeln, bis der alte Meister zurückkehrt und dem Spiel Einhalt gebietet.
Dies wurde eins zu eins umgesetzt, nur mit dem Unterschied, dass der Besen von Micky nicht halbiert, sondern in unzählige Splitter zertrümmert wird. Aber für Disneys Verhältnisse ist diese Abweichung kaum der Rede wert.

Igor Strawinski
Le Sacre du Printemps
Beim nächsten Stück handelt es sich um eine klassische Ballettmusik. Woran denkt man normalerweise als erstes, wenn man Ballett hört? Richtig – an die Entstehung der Erde und an Dinosaurier! Zumindest schien das bei Disney der Fall zu sein. Hier erleben wir, wie sich die Erde nach anfänglichen Vulkanausbrüchen und Stürmen zu einem lebensfreundlichen Ort entwickelt, beobachten Einzeller bei ihrem Kampf ums Überleben und werden sogar Zeuge, wie die Fische an Land gehen.
Die zweite Hälfte des Stückes ist ganz den Dinosauriern gewidmet. Wir sehen, wie die prähistorischen Geschöpfe ihrem friedlichem Alltag nachgehen. (Kann man bei Dinosauriern „Alltag“ sagen? Egal!) Doch was ist das? Die Musik wird dramatischer, die Dinosaurier wenden ihre Köpfe alle in die selbe Richtung, ist es etwa... Oh Gott! Ein Tyrannosaurus Rex! Lauft! Lauft so schnell ihr könnt! Verdammt, der Stegosaurus ist so langsam! Er hat dich fast! Oh Gott, er beißt dich! Komm, verpass ihm eine! Ja, jetzt hast du- Nein! Der Stegosaurus hat verloren! Er ist tot! (Ehrlich, obwohl man weiß, dass die Viecher seit Äonen tot sind, fiebert man bei diesem kurzen Kampf mit).
Szenenwechsel: Die Sonne brennt glutheiß vom Himmel, die Dinosaurier drängen sich um die wenigen immer kleiner werdenden Wasserlöcher. Durstend ziehen sie auf der Suche nach Wasser und Nahrung umher, wenn sie nicht gerade Opfer eines größeren Wasserloches geworden sind, das sich als Sumpf entpuppt. Einer nach dem Anderen fallen sie der Hitze, dem Durst und dem Hunger zum Opfer, bis irgendwann keiner mehr übrig ist und nur noch Knochen von ihrer einstigen Existenz zeugen. Als sei das noch nicht genug, folgt ein Erdbeben, in dem die Landschaft neu geformt und der Großteil der Knochen zertrümmert wird. Und dann kommt auch noch eine Flutwelle. Ja klar, jetzt wo alle tot sind, ist wieder Wasser da, verdammte Bürokraten!

Es folgt ein kleines Zwischenspiel, in dem der eigentliche Star von Fantasia vorgestellt wird: Der Ton. Hier werden die Klänge einzelner Instrumente visuell dargestellt. Da ich hier nicht viel über die Geschehnisse sagen kann, möchte ich die Gelegenheit nutzen darauf hinzuweisen, dass Bild und Ton bei allen bisherigen und noch folgenden Beiträgen in perfekter Harmonie zueinander stehen. Jeder Klang wurde mit einer passenden Geste oder Aktion versehen und die meiste Zeit fällt es schwer zu glauben, dass der Film nach der Musik entstanden ist, und nicht umgekehrt.

Ludwig van Beethoven
6. Sinfonie (Pastorale)
Zeit für einen kurzen Ausflug in die griechische Mythologie. Kleine Einhörner hüpfen vergnügt durch die Gegend, ein Pan flötet und es kommt zu spielerischer Interaktion. Zudem fliegen Pegusas (angeblich der Plural von Pegasus) durch die Lüfte, weibliche Zentauren machen sich schön für ihre männlichen Partner* und Dionysos hält ein Fest ab. Dabei werden sie allerdings unterbrochen, von niemand geringerem als Zeus höchstpersönlich. Und wie es sich für den Chef gehört, wird sein Auftritt von einem Unwetter begleitet, bei dem er selbst die Blitze (frisch von Hephaistos geschmiedet) schleudert. Vorzugsweise auf Dionysos. Aber auch Zeus wird mal langweilig, also kehrt auch bald wieder Ruhe ein. Natürlich wird jetzt erst recht gefeiert, bis die Sonne (in Form von Apollon) unterzugehen beschließt und alle schlafen gehen, wie sich’s gehört.
*Hier wurden in den Sechzigern einige Szenen nachträglich verändert , da eine schwarze Zentaurin mit dem Körper eines Esels, die die anderen Zentaurinnen bedient hatte einigen Leuten bitter aufstieß. So werden acht Sekunden lang andere Szenen wiederholt, in 27 Sekunden wird in die Szenen hineingezoomt, damit man die Zentaurin nicht sieht und weitere acht Sekunden fehlen ganz. Das ist zwar ziemlich ärgerlich, aber da es sich hier nicht um meinen Lieblingspart handelt, kann ich es noch ertragen. (Aber hätte man das nicht eleganter lösen können?) Wo wir schon von Schnitten reden: Bei den Zwischenmoderationen fehlen in der deutschen Version ganze 13 Minuten, aber das stört mich nun wirklich nicht besonders. (Quelle: Schnittberichte.com)

Amilcare Ponchielli
Der Tanz der Stunden
Wieder eine Ballettmusik, und diesmal wird dazu sogar Ballett getanzt. Von Straußen, Nilpferden, Elefanten und natürlich Krokodilen.
Hier möchte ich die Ereignisse nicht beschreiben, da sie auf sehr viel Slapstick und Situationskomik basieren. Aber man kann wohl ohne Zweifel sagen, dass dies der witzigste Teil von Fantasia ist.

Modest Mussorgski
Eine Nacht auf dem kahlen Berge
Ach ja, was auch immer jetzt kommt, ich bezweifle, dass es mir diese Leichtigkeit, die ich nach dieser Überdosis an herrlicher Komik verspüre nehmen kann. Also gut, fangen wir an. Ein Berg bei Nacht, das geht ja schon aus dem Titel hervor. Langsam lauter werdende Streicher, wir nähern uns dem Berg. Die Spitze des Berges stellt sich als... Teufel heraus, der seine Flügel ausbreitet... Sein Schatten reicht bis in die am Fuße des Berges gelegene Stadt... Er beschwört die Seelen der Toten und treibt seine Spielchen mit ihnen... WOW!
Höllenfeuer flammen auf und Dämonen beginnen ihren Tanz, der Teufel hebt einige von ihnen grinsend hoch, nur um sie kurz darauf angewidert ins Feuer zu werfen. Er verwandelt tanzende, flammende Schönheiten in Vieh und die ganze Szenerie wird immer höllischer, man weiß nicht mehr wo oben und unten ist, Harpyien fangen sich einige Dämonen und bekriegen sich untereinander.
Meine Damen und Herren, Sie erleben gerade die düsterste Sequenz, die Disney uns je beschert hat.
Doch bevor der Teufel richtig loslegen kann, wird er jäh von einer Kirchenglocke unterbrochen. Die Seelen kehren zurück in ihre Gräber und wir können uns wieder orientieren, während der Teufel sich auf dem Gipfel des Berges zusammenfaltet, nur um nächste Nacht wahrscheinlich noch mal von vorne anzufangen.

Franz Schubert
Ave Maria
Das vorherige Stück geht direkt in dieses über. DAS nenne ich mal einen Stimmungswechsel! Ein Fackelzug ist mehrere Minuten lang zu sehen und schließlich erleben wir, wie die Sonne aufgeht und dieser Film endet.


Nun, wie soll ich es ausdrücken...? Fantasia ist ein Meisterwerk! Eine perfekte Symbiose aus Bild und Klang, die auch nach fast siebzig Jahren begeistert. Die Zeichnungen sind klasse, die Musik sowieso. Die bereits erwähnten Kürzungen können meine Euphorie nicht dämpfen: Dieser Film ist Pflichtprogramm für Freunde der Filmkunst und für Liebhaber klassischer Musik.
Und als ob das nicht reichen würde, hat Fantasia, da ich ihn das erste mal als kleines Kind sah, meinen Musikgeschmack nachhaltig geprägt. Und spätestens damit hat sich dieser Film von mir die Höchstwertung verdient.

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