Eine Kritik von Apollon (Bewertung des Films: 5 / 10) eingetragen am 08.12.2009, seitdem 641 Mal gelesen
Nicht sofort an Alfred Hitchcock und sein „Fenster zum Hof“ zu denken, da komme ich nicht umhin. 1954 noch kerkerten Verletzungen infolge eines Unfalls James Stewarts Jeff in seinem Apartment ein, heutzutage ist es eine elektronische Fußfessel, die hier Kale Brechts (Shia LaBeouf) richterlich angeordneten Hausarrest vollzieht. Gefangen im eigenen Reich zu sein, das klingt für einen Jugendlichen wie Kale im ersten Augenblick nicht unweigerlich auch nach Gefängnis, hat man doch endlich Zeit, sich ausführlich seinen Videospielen zu widmen. Es sei denn, Mutter verbietet es und schneidet die Kabel durch. Immerhin erst, nachdem in den Nachrichten auffällig beiläufig über eine vermisste junge Frau und einen schon lange gesuchten Serienmörder berichtet wurde.
Der „Hinterhof“ erstreckt sich in „Disturbia“ auf alle vier Himmelsrichtungen. Nicht in jeder wird es für Kale gleichermaßen aufregend. Hier lässt sich eine Affäre beobachten, dort hausen verzogene Gören, die einem Streiche spielen, wenn sie nicht gerade heimlich dem Pornokanal frönen. Aber dann gibt es da noch die schöne Ashley, die dem adoleszierenden Protagonisten gleich bei ihrem Zuzug sofort den Kopf verdreht. Und den zunächst kauzig wirkenden Mr. Turner, der täglich nur beim Rasenmähen gesichtet wird. Diese zwei Winkel der Nachbarschaft stehen vermehrt unter Kales Beobachtung, der vor lauter Langeweile den Voyeur in sich entdeckt. Wie bei Hitchcock behilft er sich eines Fernglases als verlängertes Auge; doch es wären nicht mehr als fünfzig Jahre technischer Evolution vergangen, wären nicht auch Fotohandy, Computer und Internet als kombinierte Werkzeuge für Echtzeit-Observierungen im Einsatz oder die Digitalkamera als ebenso gleich datenspeicherndes Fernrohr der Gegenwart. Letztere ist es auch, der später die zweifelhafte Ehre zuteil wird, das entscheidende, grauenhafte Detail entdeckt zu haben.
Waren in „Das Fenster zum Hof“ das Fernglas sowie das Teleobjektiv des Fotoapparats zugleich jedoch so etwas wie ein Corpus delicti der Obsession, fungiert die zeitgenössische Kommunikationstechnik in „Disturbia“ doch mehr funktional als Sehhilfe der Späherei. Es bleiben hobbydetektivisch instrumentalisierte Gerätschaften, denen es an Symbolik und psychologischer Unterfütterung fehlt. Zeugnis ebensolcher inhaltlicher Schmalspurigkeit geben auch die redundanten Schlussminuten des Films. Man könnte meinen, Kale machte die Verarbeitung der ihm tags zuvor widerfahrenen, traumatischen Erlebnisse zu schaffen. Doch was beschäftigt den Geist des Jungen? Die Revanche für die Kapriolen der verzogenen Nachbarsbengel! Und dabei zeigte das Bild ihn vor fünf Minuten noch die Hölle auf Erden durchschreiten. Selten habe ich einen Film sich so schnell selbst rehabilitieren sehen.
Die Ablenkung vom eigentlichen Kern, vom vermeintlich kriminalistischen Fall in Mr. Turners Haus rührt zudem oft daher, dass das Drehbuch die Balz um die angebetete Nachbarin nie aus den Augen verliert. Und wenn es gar gelingt, jene Schicht herkömmlicher Teenagerromanzenzutaten zu durchdringen, etwa als Kale seiner Herzallerliebsten beängstigend intime Beobachtungsdetails gesteht, dann wird aus der eigentlichen Unheimeligkeit der Worte kurzerhand das „süßeste“ Liebesgeständnis. Themen wie die Unverletzlichkeit der Wohnung und Privatsphäre stellen sich unter diesen Umständen erst gar nicht. Es sind weniger die menschliche Neugier und vielmehr die Spätpubertät, welche die Blicke in diese Himmelsrichtung motivieren. Kale hat sich buchstäblich in das Mädchen von nebenan verguckt und wird als Light-Spanner nicht in Verruf gebracht. Dies ist die genügsame Erklärung für den anrüchigen Reiz der Beobachtung von sich unbeobachtet fühlenden Menschen, das Eindringen in andere Existenzen, das Sich-Fragen, wie sie leben, was sie denken. Die vielen Filme, die dagegen simultan in Hitchcocks Hinterhoffenstern ablaufen, führen bei der James-Stewart-Figur zur ungemeinen Anregung ihrer Phantasie, die das Informationsvakuum des Nicht-Gesehenen und den Mangel des ungewissen Kontextes beim Sehen, kurzum: das Unsichtbare dabei mit außerordentlicher Empathie auszufüllen versucht.
Auch im Hinblick auf das Turner-Anwesen in „Disturbia“ wird eine solche Komplexität nicht erreicht angesichts der erwähnten kriminologischen Herangehensweise an jenen Gegenstand. Keine Lebensweise oder Gewohnheiten werden anhand des Gesehenen um den vermeintlichen Täter herumkonstruiert, sondern nur die mutmaßliche Tat und ihr Hergang. Die Frage, ob Mr. Turner der Serienmörder ist oder nicht, ob er sich eines Verbrechens schuldig gemacht hat oder nicht, beschäftigt den arretierten Kale am meisten. Dieses Thrillmoment gemahnt schließlich am stärksten an das Vorbild. Und das Drehbuch versteht es trotz einiger Unzulänglichkeiten hinsichtlich der Logik durchaus, davon zu zehren.
Nicht explizit ausgesprochen, aber doch latent ist „Disturbia“ nicht zuletzt Ausdruck einer Furcht vor etwas „Bösem“, das im Argen liegen und die vertraute Gemeinschaft, die so eine vorstädterische Nachbarschaft im besten Sinne darstellt, bedrohen könnte. Eine Ohnmacht, bloß einem Schein aufzusitzen. In Kriminalfällen wie dem unglaublichen des Joseph Fritzl im beschaulichen Amstetten findet das naturgegebene Misstrauen seine Rechtfertigung und das fiktionale Sujet sein reales Pendant. Der Film appelliert also an diese Paranoia vor den lauernden Abgründen nebenan. Zynisch gesprochen wird dabei im Umkehrschluss zuweilen auch dieses gewahr: In unserer oberflächlichen Gesellschaft muss man schon einmal einen Mord begehen, damit sich die Nachbarn für einen interessieren.
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