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Schon mit seinem Frühwerk „Boxcar Bertha“ hat Martin Scorsese seiner später immer charakteristischer werdenden Liebe zur Erzählung von Lebens- und Entwicklungsgeschichten und von (Anti-)Bildungsthematiken Ausdruck verliehen. Der Film erzählt – auf ihrer Autobiographie basierend – die Geschichte der jungen Bertha, die während der wirtschaftlichen Depression im Amerika der 1930er Jahre zusammen mit dem Eisenbahngewerkschafter „Big“ Bill Shelly eine kleine Bande anarchischer Outlaws anführt. Als blinde Zug-Passagiere oder in gestohlenen Autos quer durch die USA unterwegs, überfällt die Bande in bester Robin Hood-Manier die Wohlhabenden und lässt sich mit dem kapitalistischen Eisenbahnboss, perfiden Kopfgeldjägern und der Staatsmacht auf eine tödliche – und ultrabrutale – Jagd ein.
Wie auch später etwa „Raging Bull“, „GoodFellas“ oder „Die letzte Versuchung Christi“ (!) ist das Werk von 1972 also die Adaption einer (auto)biographischen Literaturvorlage und bestimmt die Person Berthas als den markierten Mittelpunkt der Erzählung.

Scorsese hat es in der Adaption literarischer (Auto-)biographien, aber auch in seinen Filmen ohne konkrete reale oder literarische Vorlage, immer grandios verstanden, ein einzelnes prekäres Individuum und seine Lebens- und Leidensgeschichte in den narrativen Fokus zu rücken. Der katholische Regisseur, geprägt durch seine Kindheit in Little Italy und ein ambivalentes Gottesverhältnis, verhandelt in seinen Filmen immer wieder theologisch aufgeladene Diskurspaare wie Moral und Gesetz, Gewalt und Freiheit, Erlösung und Verdammnis, und das ganz exemplarisch an der jeweiligen radikal fokussierten Hauptfigur und deren häufig zerrissener Seele. „Taxi Driver“ ist zweifellos der unangefochtene Klimax in diesem Zusammenhang, „Boxcar Bertha“ kann thematisch und erzähltechnisch als Fingerübung, als erster Schuss in die richtige Richtung angesehen werden. So diskutieren Bertha und „Big“ Bill etwa über die moralische Richtigkeit ihrer Selbstjustiz (und differenzieren zwischen den Aufständen der Gewerkschafter und ihren eigenen Raubzügen), der Eisenbahnboss und seine Schergen legitimieren ihre brutale Repression durch Bibelzitate (auf welche wiederum Shelly mit entgegengesetzten Bibelzitaten antwortet) und am Ende nimmt der Film eine ganz offensichtlich messianische Wende, die jedoch jede Form von Erlösung buchstäblich ins Leere laufen lässt. Auch an vielen weiteren Stellen setzt Scorsese explizit Verweise auf später für ihn so typische Thematiken.

Dies alles geschieht jedoch, ohne die Konsequenz psychologischer Engführung, wie sie etwa „Taxi Driver“ aufweist, zu erreichen. Die Verweise auf Themen wie Religion, Gewalt und Erlösung sind in diesem Frühwerk doch recht oberflächlich geraten, die Charaktere bleiben seltsam schablonenhaft und der Film scheint weder eine echte Position einzunehmen – was ja noch eher positiv zu bewerten ist! – noch, und das ist das eigentliche kleine Manko, werden die angerissenen Diskurse konsequent zu Ende gespielt. So enthält „Boxcar Bertha“ viele Ansätze, viele Versatzstücke (sogar ins politische Feld und in Rassenkonflikte wagt er sich hinein), doch diese sind für den Verlauf des Erzählten irgendwie seltsam irrelevant. Die einzelnen Figuren scheinen keine wirkliche Entwicklung durchzumachen, das Passierte und Verhandelte beeinflusst sie nicht in ihrem Tun oder Denken- die Erzählung und einhergehend die Figurenpsychologie laufen irgendwie seltsam unbehelligt neben der von Scorsese aufgemachten Tiefenstruktur her. Es ist, als ob man die vielen Marker für „Sinn“ oder „Tiefe“, die der Film ganz offensichtlich bereithält, irgendwie nicht mit dem, was da passiert und wie die einzelnen Personen handeln, synchronisieren kann, als ob der Film sein eigenes Sinnangebot – unbeabsichtigt! – an der eigenen Oberfläche abprallen ließe.
So scheint es häufig keinen wirklich konsequenten Grund, keine Motivation für Bertha, Shelly und Co. zu geben, als blinde Passagiere in Güterzügen quer durch die Staaten zu reisen, sich immer wieder auf blutige Gefechte mit ihren Verfolgern einzulassen oder im Bonnie&Clyde-Stil die High Society auszurauben. Vielleicht gibt es da ja eine Motivation, vielleicht ist das keine-Motivation-haben ja gerade das, was Scorsese exemplarisch vorführen möchte. Mit den vielen Verweisen auf religiöse und moralische Fragen hätte das dann allerdings wiederum erstmal nichts zu tun. Einer lupenrein kontrastierten und daher auch recht platten Heldenstilisierung nach dem traditionellen Robin Hood-Muster scheint Scorsese jedenfalls – trotz des Filmendes – eine Absage zu erteilen.

Auch unvollendet angerissene Handlungselemente wie die Liebesgeschichte zwischen Bertha und Bill oder die seltsame Verschiebung des Erzählfokus (hin zu Shelly) gegen Ende des Films lassen eine gewisse erzählerische Konsequenz vermissen und bestärken den Eindruck einer – ungewollten! – Ambivalenz von Figuren und Handlung (Bertha etwa ist zu Beginn naives Mädchen, zwischendurch dann wieder eiskalte Verführerin und Mörderin, dann wieder naiv, dann wieder stark und am Ende wieder hilflos, ohne tragisch zu sein – meiner Meinung nach sind das eher Drehbuchschwächen als eine genau so beabsichtigte Charakterentwicklung).

Trotz allem: zu behaupten, die recht dünne Story und vielleicht etwas dürftige Figurenpsychologie seien bloße Lückenfüller und der zugegeben äußert brutale Film sei nichts als eine oberflächliche Gewaltschau (so etwa geschehen in der damaligen „Variety“-Kritik), empfinde ich als einen Schritt zu weit gegangen. Es ist zwar einzusehen, dass der Film aus damaliger Perspektive – die Aufnahme Scorseses in den E-Film-Kanon stand eben noch bevor! – einigermaßen leicht (und vorschnell) in die zu dieser Zeit übervollen Exploitation-Schublade einzusortieren war. Eine heutige Rückschau jedoch ermöglicht die Bewertung des Ganzen im Kontext anderer (späterer) Arbeiten des Regisseurs und lässt, wie gesagt, durchaus bereits die Handschrift Scorseses im Bezug auf ethisch-rechtliche, vor allem aber eben auch auf christlich-eschatologische Motive deutlich herausstellen. Ein Meisterwerk wie „Taxi Driver“ kann halt einfach ein ausgefeilteres und gewissermaßen auch „tieferes“ Drehbuch vorweisen (und hierdurch mit Travis Bickle einen der beeindruckendsten Charaktere der Filmgeschichte kreieren), zumindest ein hinweisendes Potenzial ist bei „Boxcar Bertha“ aber definitiv schon zu erkennen.
Auch ist „Boxcar Bertha“ natürlich ebenfalls kein „Bonnie & Clyde“, jedoch ist auch hier die in Arthur Penns Klassiker vorgeführte und für eine Grundintuition von „New Hollywood“ charakteristische Gegenüberstellung von Autorität und Anarchie, von Repression und Rebellion auch bei Scorsese – mit einer ebenfalls typischen Sympathie für die Underdogs – deutlich angelegt. Allein eine – wie beschrieben – konsequentere Verfolgung und Vernetzung der vielen verhandelten Ansätze und eine größere Relevanz dieser für Figuren und Handlung wäre wünschenswert gewesen.

Überhaupt weiß die Ästhetik von „Boxcar Bertha“, und hier sogar insbesondere die Ästhetik der Gewalt, wirklich zu gefallen.
Wie zunächst ein Kerouac’sches Hobo-Lebensgefühl mit Trainhopping, freiem Leben und unverbrauchten Ideen in Weichzeichner-Manier idealisierend eingefangen wird, nur um dann – größtmöglich kontrastierend – von roher, dreckiger und ungebrochener Brutalität jäh vernichtet zu werden: das ist ganz groß und sehr wirkungsvoll – weil in der Tat schockierend – inszeniert. Diese Eruptionen der Gewalt, die immer wieder vollends unvermittelt in die Handlung einbrechen und hierbei so schmerzhaft pur und dreckig, so unmittelbar und unstilisiert daherkommen, haben mich spontan an Wes Cravens „Last House on the Left“ denken lassen, der ja immerhin ebenfalls 1972 herauskam. Ob man bei „Boxcar Bertha“, wie bei „Last House“ und auf der anderen Seite ja natürlich auch beim New Hollywood, allerdings diesen riesigen Vietnam-Diskurs aufmachen und das plötzliche Hereinbrechen extremer Brutalität in den Film vor diesem Hintergrund verhandeln soll, weiß ich nicht.
Es soll allerdings deutlich klar gemacht werden, dass die teilweise recht harten, rau-körnig eingefangenen Grausamkeiten definitiv KEINE bloß spekulativen und daher prinzipiell fragwürdigen Gewaltporno-Szenen ohne tiefere, allegorisch-hinweisende Funktion sind. Sei es Vietnam, sei es die Diskussion um Autorität und Rebellion, seien es theologische Provokationen oder bloß eine ästhetische Referenz an seine Entstehungszeit: die Darstellung von Gewalt in „Boxcar Bertha“ kann (und will) vielfältig analysiert und mit Sinn aufgeladen werden. Dass Scorsese hierbei auf ein zu plattes, wie auch immer geartetes soziopolitisches oder übermoralisches Statement verzichtet, ist gut. Dass viele implizite komplexere Zusammenhänge aufgrund von Drehbuchschwächen für eine anspruchsvolle Interpretation vielleicht gar nichts taugen, ist die Schwäche dieses Films.

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