Review

Es gibt viele Stimmen, die gegen "Der Eissturm" sprechen, nicht zuletzt, weil es nicht sofort so offensichtlich ist, worum es in diesem Film überhaupt geht. Es gibt keine Action, die Handlung gestaltet sich schleppend und mit der Aussage wird man, wenn man auf eine eindeutige wartet, knapp gehalten.

Trotzdem empfinde ich diesen Film als extrem faszinierend, ein empfindsames und hochinteressantes Unternehmen, daß sich als bizarr-spannendes Drama der stillen Sorte entpuppt, ohne mit einer dicken Moral aufzuwarten.

Ort der Handlung ist irgendeine Kleinstadt in Conneticut, es ist Spätherbst 1973, Nixon ist in Bedrängnis und sowohl draußen vor der Tür als auch in der Herzen der Bewohner herrscht Kälte oder noch besser, ungebrochenes Schweigen.
Im Zentrum der Handlung stehen die Charaktere aus zwei Familien, die Hoods und die Carvers. Die Hoods (Kevin Kline, Joan Allen) sind in ihrer Ehe erstarrt, er kann mit ihr nicht richtig reden, sie fühlt sich vernachlässigt und ist in der Mitlife-Crisis, nicht zuletzt, wo sie hinter ihren Teenager-Kindern nicht mehr herkommt. Und sie hat allen Grund, kühl zu sein, denn ihr Mann hat ein Verhältnis mit der Nachbarin Carver (Sigourney Weaver), deren Mann (Jamey Sheridan) selten zu Hause ist. Während sie gelangweilt ist, ihre bemühte Hipness der Biederkeit ihres Mannes geopfert, aber tapfer zur Schau getragen, will Ben weniger vögeln, als vielmehr reden, was sie wiederum nicht will.

Der andere Erzählstrang betrifft die Kinder der Paare, die sich, alle in derPubertät, bzw. schlimmsten Teenagerphase ebenfalls unwohl fühlen, den Eltern entfremdet, aber noch nicht gereift oder erwachsen, unsicher und ziellos, zwischen Erwartungen und eigenen Wünschen.
Während Paul Hood (Tobey "Spider Man" Maguire) inzwischen außer Haus auf seine Mitschülerin Libbetts (Katie "Dawsons Creek" Holmes) abfährt, kann Wendy (eine wunderbare Christina Ricci) mit ihrer erwachten Sexualität noch nicht das richtige anfangen. Während sie einerseits ein politisch-aufgeklärtes Bewußtsein entwickelt (eine "Dagegen"-Stimmung), sucht sie andererseits nach liebevoller Aufnahme, die sie zeitgemäß nicht eingestehen will, die sich aber in allerlei naiven Sexspielchen niederschlagen.
Bei den Carvers sieht es ebenso hin- und hergerissen aus. Mikey (Elijah "Frodo" Wood) ist teenagergemäß vollkommen abwesend, ein introvertierter Träumer, der die Realität durch seine eigene Brille wahrnimmt und obwohl er seine altersgemäße Aufgabe (nämlich mit Wendy rumzumachen) erfüllt, scheint dies nicht seine Welt zu sein. Schlimmer noch erwischt es seinen jüngeren Bruder Sandy (Adam "Wunderkind Tate" Hann-Byrd), dessen beginnende Pubertät sich in naiv-agressiven Handlungen ihre Bahn bricht, der zwar in Wendy verliebt ist, allerdings noch gar nicht versteht, was das bedeutet und dementsprechend von der "erfahreneren" Wendy überfahren wird.

All diese Informationen stellen eine Bestandsaufnahme dar, die man während des Films aus den Handlungen der Personen herausfiltern kann. Im Laufe der Handlung wird jeder dieser Personen eine neue Richtung einschlagen. Während die Affäre der Eltern herauskommt, kochen die Stimmungen bei einer Schlüsse- (Partnertausch-)Pary hoch. Draußen gefriert der Eissturm (sofort gefrierender Regen, der die ganze Umgebung in ein klirrendes Winterwunderland verwandelt) die Umgebung, die Beziehungen erstarren und geraten anschließend (bei Schmelze) in neue, noch nicht abzusehende Bewegungen.

Die Kinder dagegen erleben neues. Während Paul scheitert (er ist zu rein und intellektuell vernünftig für die wilde Libbetts, die sich als Kind reicher Eltern herausstellt und in ihm einen liebevollen Bruder sieht), wird Wendy neue Gefühle entdecken. So gesehen ist der Eissturm die nötige Katharsis für alle Beteiligten, wenn er allerdings auch ein Menschenleben kostet.
Ein hoher Preis, der das Aufbrechung der Erstarrung aller Anwesenden nicht als Befreiung und Happy End darstellt, sondern nur als möglichen ersten Schritt in eine neue, richtige Richtung.

Ang Lee hat hier einen stillen, aber unglaublich intensiven Film komponiert, denn jede Szene ist harmonisch aufeinander abgestimmt, auch wenn nur Mißtöne auf der Leinwand zu sehen sind. Leise Trommeln und ein ständig erklingendes Windspiel ersetzen einen dick aufgetragenen Soundtrack und verstärken das fröstelnde Gefühl, daß den Zuschauer bei all der inneren und äußeren Kälte ereilt. Die Farben bestehen in allen Schattierungen von Grau, eine schier unglaubliche Anordnung von Nicht-Farben, die aber nicht farblos, sondern eben grau wirken. Unglaublich gut getroffen dabei der Stil der beginnenden 70er in der aufgeklärten US-Mittelklasse in ihren Vorstadtheimen, sei es im Einrichtungsstil oder der aus heutiger Sicht grausamen Kleiderwahl. Neben zahlreichen politischen und zeitgenössischen Einflüßen (Einrichtung, Comichefte, sexuelle Offenheit) und dem Einflechten von religiösen Motiven (sehr wichtig in der US-Gesellschaft) macht die gebündelte Konzentration des Geschehens (spielt sich alles an nur zwei Tagen ab) das Zuschauen zu einer Mischung aus faszinierendem Abgestoßensein und gänsehautgeprägter Faszination.

Vielleicht muß man das richtige Gefühl für diesen Film haben, auf ihn eingenordet sein, aber ich finde die Intensität dermaßen berauschend, daß man jede Szene geradezu in sich hineinsaugen kann. Dazu kommt eben ein schier unglaubliches Staraufgebot, daß sich hier komplett der Sache unterordnet.

So gerät "The Ice Storm" zu einem ungewohnt kompletten Film, eine Bestandsaufnahme von Jugend und Erwachsensein, vom Leben in den 70ern, von der Unschuld und der Sexualität.
Ein still poetisches Stückchen Geschichte, daß den Zuschauer im Sessel bannt und frösteln läßt, der jedoch dennoch nicht davon lassen kann. Erschütternd und liebevoll zugleich.
Für die Schwerzugänglichkeit, die Mainstreamseher befallen kann, übernehme ich keine Haftung. Und außerdem brauche ich jetzt eine warme Decke. (9,5/10)

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