Eine Kritik von Angst (Bewertung des Films: 9 / 10) eingetragen am 17.02.2018, seitdem 795 Mal gelesen
Die Rache der Rednecks
Tonya Harding (Margot Robbie) kennt nur eines in ihrem Leben: den Eiskunstlauf. Schon als Dreijährige wurde sie von ihrer Mutter LaVona Golding (Allison Janney) aufs Eis gezerrt. Bald schon steht sie in Wettkämpfen ganz oben auf dem Treppchen. Und sie geht als erste US-Amerikanerin in die Geschichte ein, die den so genannten Triple Axel stehen kann - einen der schwierigsten Sprünge überhaupt. Leider passt die rauhe Tonya nicht so recht ins Bild des unschuldigen Eisprinzesschens. Sie ist eine rauhe Redneck, die flucht wie eine Kesselflickerin. Die Juroren haben Mühe, Tonyas Charakter zu goutieren. Und so landet sie oft im Mittelfeld, obwohl ihre Technik makellos ist. Irgendwann reisst Tonyas Mann Jeff Gillooly (Sebastian Stan) der Geduldsfaden: Er versucht, seiner Frau auf zwielichtigem Wege zum Erfolg zu verhelfen. Und plötzlich landen er und Tonya auf ganz, ganz dünnem Eis ...
I, Tonya ist das genaue Gegenteil davon, was man sich gememeinhin unter einem »Eiskunstlauffilm« vorstellen dürfte. Fröhlich pfeift der Regisseur Craig Gillespie (Lars and the Real Girl) auf die Klischees des Sportfilms. Mit Recht, denn im Zentrum von Tonya Hardings Leben steht ein empörender Akt der Unsportlichkeit. Angeblich engagierte ihr Mann einen Schläger, um mal eben Tonyas Konkurrentin Nancy Kerrigan das Knie zu zertrümmern.
Bis heute ist nicht geklärt, wer genau wie viel vom Attentat wusste. War Tonya selbst involviert? Wir wissen es nicht, und Gillespie spielt gekonnt mit den widersprüchlichen Aussagen. Immer wieder richten sich die Figuren direkt an die Kamera und behaupten: »Nein, was ich hier gerade im Film tue, habe ich in echt nicht getan.« Oder: »Ja, so hat Tonya tatsächlich trainiert.« Das ist nicht nur wahnsinnig witzig, sondern schafft eine spannende Meta-Ebene, die die Illusion des Mediums Film hervorhebt.
Gillespie bewahrt stets eine lakonische Distanz zur Geschichte, die er erzählt. Wenn er Gewalt zeigt, ist er geradezu zynisch. Und Gewalt ist oft zu sehen: Tonya wird erst von ihrer Mutter, dann von ihrem Ehemann geschlagen und gepeinigt. Der Film spielt diese Szenen immer als Witz aus. Das wirkt allerdings nie herzlos. Im Gegenteil: Gerade durch die humorvolle Brechung wirkt Tonyas Schicksal zugänglicher, da Gillespie dem Publikum keine kalkulierte Mitleidshaltung aufdrängt.
Spätestens wenn die Story in kriminelle Gefilde vordringt, drängt sich ein Vergleich mit Fargo (1996) auf. Die Coen-Brüder liessen dort Normalos in eine wirre und gewalttätige Situation straucheln. Das geschieht hier auch – mit ähnlich trockenem Humor. Das omnipräsente Thema des Filmes ist die White-Trash-Kultur, die das glamuröse Amerika möglichst unter den Tisch kehren will. Der Gewaltakt gegen Tonyas Konkurrentin erscheint als Rache der Rednecks gegen das sie verhöhnende Establishment. Der Film ist darum bemüht, diese Rache nachvollziehbar zu machen – obwohl sie in der Ausführung haarsträubend dämlich ist. Der aufgeschlossene Blick auf die oft belächelten »Deplorables« in den USA ist Gold wert, gerade in der Ära Trump. Diese Perspektive kann man Gillespie nicht hoch genug anrechnen. »America. They want someone to love, they want someone to hate« – diese Zeile aus dem Film trifft direkt ins Schwarze.
Über dem politischen Subtext thront allerdings das persönliche Schicksal Tonyas, das überraschend nahe geht. Margot Robbie spielt grandios auf: Sie wirkt geerdet, witzig, echt. Ihr ganzes Leben lang litt Tonya unter toxischen Beziehungen. Und schliesslich droht sie ihre grosse Leidenschaft, das Eiskunstlaufen, zu verlieren. Das nimmt mit. Die Szene, in der Tonya zum ersten Mal überhaupt die Liebe ihrer strengen Mutter zu spüren scheint, ist tieftraurig. Gillespie zeichnet seine Hauptfigur grösstenteils als Opfer unglücklicher Umstände, was vielleicht nicht der Wahrheit entspricht, aber innerhalb der Dramaturgie durchaus Sinn ergibt.
Neben alledem kann I, Tonya auch als Sportfilm überzeugen, gerade weil er den Sport entmystifiziert. Tonya geht es nicht um Ehre, sondern schlicht um Ruhm. Und darum, dass es sich verdammt gut anfühlt, einen schwierigen Sprung vor Publikum zu stehen. Diese Ekstase macht Gillespie mit den Eiskunstlauf-Szenen nachfühlbar. Sie sind mit einem Wort: fantastisch. Eine Augenweide. Wenn Tonya zu ZZ Tops Sleeping Bag skatet, will man am liebsten mit aufs Eis hüpfen. Ach ja: Die Musikauswahl ist allererste Sahne.
Wermutstropfen gibt es nur wenige. Vorwerfen lässt sich dem Film allenfalls, dass er seine Themen allzu deutlich abklappert. Zur ganz grossen Kunst reicht es dann doch nicht. Aber Gillespie verfehlt dieses Ziel nur knapp. I, Tonya ist cool, witzig, intelligent, berührend und unterhaltsam. Was will man mehr? Wenn die Coens oder Tarantino zu ihren Glanzzeiten einen Eiskunstlauffilm gedreht hätten, sähe er ungefähr so aus. Das ist Grund genug, ins Kino zu rennen.
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