Eine Kritik von Leimbacher-Mario (Bewertung des Films: 10 / 10) eingetragen am 18.10.2019, seitdem 2411 Mal gelesen
Kolossaler Klassenkampf
„Familientausch“ oder „Das Arbeitsexperiment“ hätte ein solches Format sicher bei RTL2 geheißen, wo zwei Familien von den gegensätzlichen Polen der Gesellschaft aufeinandertreffen und sich ineinander verkeilen, die eine sich sozusagen vom monetären „Blut“ der anderen ernährt. Nur könnte Bong Joon-hos neuester Streich intellektuell und in jeder seiner filmischen Poren nicht weiter von deutschem Trash-TV entfernt sein. Ihm ist ein weiterer Brocken gelungen, der seine bisher (beispielsweise in „Snowpiercer“) angesprochenen Themen gekonnt weiterspinnt, zum Teil sogar auf den Kopf stellt und gehörig aufrüttelt, variiert und zum Nachdenken anregt. Ein wahnsinniges Kinoerlebnis, immer in Bewegung und elegant as fuck. Ein Zeitdokument von Wert. Jeder, der das bewegte Bild liebt und nicht vor komplexeren Themen, fordernden Thesen, Collagen (sowie Untertiteln) zurückschreckt, kommt da vor lauter Freude schonmal ins Trudeln. Brilliert auf ganzer Linie und sollte die „Arthouse“-Schallmauer hoffentlich durchbrechen und auch im Mainstream zumindest etwas einschlagen. Denn mit einem „Joker“ hat er gar nicht mal wenig gemeinsam - und der hat ja immerhin einen Nerv getroffen und gefällt jedem und seiner Mama...
„Parasite“ ist ein wenig der perfekte Sturm. Mit „The Host“ hat der Herr Regisseur einen der feinsten Monstermovies aller Zeiten gemacht, mit „Snowpiercer“ hat er einen meiner postapokalyptischen Favoriten abgeliefert und mit „Okja“ hatte der südkoreanische Meister gar großen Beitrag an meinem Vegetarismus. Wie kann man das noch toppen?! Mit „Parasite“, einem wilden Genremix zwischen Gesellschaftskritik und Klassenkampf, zwischen Ungerechtigkeit und sozialen Zecken, zwischen schwarzer Satire und Thriller, zwischen Tal der Tränen und Wolkenstadt, Existenzminimum und Überdruss, zwischen Naivität und Schlitzohrigkeit, Not und Tugend, Träumen und Schäumen, Sekt und Selters, Blut und Spucke. Aber egal was er anschneidet: er tut dies mit Stil, ja fast schon Anmut, enormer Cleverness und ganz viel Unberechenbarkeit. Dieser mutige Mitesser macht einfach höllisch Fun ohne dabei Inhalt, Nachhaltigkeit und Aussagen auch nur eine Sekunde zu vernachlässigen. Neben Parallelen zu den genannten eigenen Werken und der aktuellen Kinoversion von Batmans Erzfeind hat dieser hinterhältige Parasit auch (thematische) Ähnlichkeiten zu „Us“, zu „The Handmaiden“, zu „Burning“. Alles keine Leichtgewichte - aber Bong Joon-ho verwebt Mainstream und Anspruch derart spielend und unterhaltsam, dass er all der sozialen Relevanz und der aktuell brodelnden „Wut“ der unteren Klassen extrem gekonnt die Krone aufsetzt, ihr den Spiegel vorhält und sie zum Teil sogar gewievt entlarvt. Dabei stellt er sich nie über den Zuschauer oder will seine Meinungen aufzwingen, predigen, reindrängen. Er lässt immer eigenes Denken zu, begrüßt und unterstützt dies sogar. Kein Wunder, dass Cannes da verrückt gespielt hat. Hier hatten die edlen Herrschaften am türkisblauen Mittelmeer sogar mal recht gehabt. „Parasite“ ist unbändig gut und verflixt relevant. Frisch, als ob es das Medium Film erst seit vorgestern gäbe. 130 Minuten flogen im Kino selten so schnell an mir vorbei. Ich lege mich jetzt schon fest: „Parasite“ holt nächstes Jahr den Auslandsoscar. Und ich würde ihn mir sofort nochmal ansehen. Ein Schmuckstück im Schrank der Kinohistorie. Damn!Â
Fazit: jo, das wird schwer zu toppen sein dieses Jahr... „Parasite“ nistet sich unter der Haut, in der Gesellschaft und im Kinoolymp ziemlich hartnäckig und umweglos ein. Hier darf, ja muss man das (sicher auch von mir manchmal zu oft benutzte) Wort Meisterwerk ohne Gewissensbisse nutzen. Bong Joon-ho auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft kann es mit allem und jedem aufnehmen. Megastarkes, für mich nahezu perfektes Highlight!Â
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