Eine Kritik von Herr Kees (Bewertung des Films: 8 / 10) eingetragen am 29.04.2022, seitdem 1108 Mal gelesen
DOCTOR DANIEL'S MULTIVERSE OF MADNESS
Evelyn Wang führt das Leben einer klassischen Einwandererfamilie: Mit ihrem etwas verweichlichten Mann, ihrer aufmüpfigen Tochter und ihrem pflegebedürftigen Vater lebt sie in einer viel zu kleinen, vollgestopften Wohnung über dem eigenen Münzwaschsalon und hetzt gestresst zwischen Kundenbetreuung, häuslichen Pflichten und Steuererklärung hin und her. Das dramatischste Ereignis in ihrem Leben ist aktuell die anstehende Steuerprüfung. Das ändert sich jedoch schlagartig, als ihr Ehemann kurzfristig von einer Entität aus einem Paralleluniversum übernommen wird und sie in eine weltenbedrohende Katastrophe einweiht, bei der sie die einzige Rettung zu sein scheint.
Was dann passiert, ist in etwa so schwer zu beschreiben wie zu glauben. Nur so viel: Es geht um das Konzept unendlicher „Manyverses“, die aus den Entscheidungsgabelungen jeder einzelnen Person entstehen, es geht um ein matrixhaftes Dimensionsspringen, bei dem Fähigkeiten anderer eigener Personas wie Apps ins eigene Betriebssystem „downgeloadet“ werden können, vorausgesetzt, man findet einen möglicht unwahrscheinlichen Sprungtrigger, es geht um Familie und Mutterschaft, um die Erfüllung im Augenblick, die Zustimmung zum eigenen Leben und vermutlich noch um zahlreiche weitere und tiefere Bedeutungsebenen, die man sich erst mit späteren Sichtungen erschließen wird.
Serviert wird das alles wie Filmtitel und Poster schon andeuten in einem wilden Mix aus bizarrer Komödie, bewegendem Familiendrama, dezenten und offensichtlichen Filmreferenzen von 2001 bis RATATOUILLE sowie teils höchst ungewöhnlichen Action- und Martial-Arts-Einlagen mit Handtaschenhunden, Wurstfingern und Wackelaugen.
Allein die Besetzung ist ein Coup: Michelle Yeoh darf in einer seltenen Charakter-Hauptrolle in einem US-Film das komplette Register ihres Könnens zeigen. Überraschenderweise enttäuscht hier nur ihr Martial Arts-Part etwas, da bei einigen Szenen offensichtlich ein Stuntdouble eingesetzt wurde. Aber gut, Frau Yeoh ist halt auch schon 60. Ke Huy Quan als ihr Ehemann hingegen legt schon früh im Film einen Fannypack-Fight hin, der Jackie Chan zur Ehre gereicht hätte. Quan, bekannt als Kinderstar aus GOONIES und INDIANA JONES AND THE TEMPLE OF DOOM, spielt hier seine erste größere Filmrolle seit 20 Jahren. James Hong als Großvater (Alpha-)Gong Gong ist einer der bekanntesten asiatischen Akteure Hollywoods. Und Jamie Lee Curtis sorgt als überspießige, aufgequollene IRS-Seniorin für einige der größten WTF-Momente in diesem an WTF-Momenten nicht gerade armen Film.
Wie bei einem allzu üppig belegten Bagel stellt sich auch beim Genuss dieses Wahnsinnsfilms nach einiger Zeit leider ein Übersättigungseffekt ein. Rund eine gefühlte halbe Stunde hätte dieser 140-Minuten-Film an Kürzungen vertragen, insbesondere im letzten Drittel, wenn sich Szenen und Motive zu oft wiederholen.
Doch das ist Kritik auf hohem Niveau, denn es ist schon seit sehr sehr langer Zeit kein solch außergewöhnlicher, mutiger und abgefahrener Film auf der Leinwand zu sehen gewesen, so dass man angesichts dieser Breitseite an inhaltlicher wie formaler Fülle und Komplexität nur den Hut ziehen kann.
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