Morde im Japan-Express
Pack ein paar Leute mit bösen Absichten in einen Zug und schon hast du ein fest gezurrtes Spannungspaket. Agathe Christie wusste das, Alfred Hitchcock wusste das und unter anderem Sean Connery, Gene Hackman, Liam Neeson und Steven Seagal bekamen es zu spüren. Der begrenzte Raum und die bestenfalls kurzen Gelegenheiten auszusteigen machen die Insassen zu Jägern und Gejagten, zu Tätern und Opfern. Das sorgt für atemlose Spannung, unliebsame Überraschungen und heftige Zusammenstöße. Ein klassischeres Action-Thriller-Setting dürfte kaum zu finden sein. Je nach Ausrichtung dominiert mal das eine, mal das andere, am Ende bedingen sie sich gegenseitig.
Bei David Leitch ist man sofort geneigt, den Primat der körperlichen Aktion zu vermuren, schließlich hat sich der Mann jahrzehntelang als Stuntman verdingt und mit dem Wechsel ins Regiefach lediglich Andere für sich schießen, prügeln und metzeln lassen. Sein Portfolio liest sich dann auch wie die Haute Cuisine des modernen Badass-Kinos. "John Wick", "Atomic Blonde", "Deadpool 2" sowie "Hobbs & Shaw" sprechen jedenfalls alle dieselbe Sprache, bestehend aus derben Sprüchen, noch derberem Humor und den derbsten Taten, die der Mainstreamfilm gerade noch so durchwinkt. Wenn dieser Schaffner zum Einsteigen ruft, dann ist völlig klar, dass nur sehr wenige Fahrgäste den Zug wieder verlassen werden. Also lebendig verlasen werden.
„Bullet Train“ funktioniert genau nach diesem Motto, aber wer hier mit auf die Reise geht, der bekommt noch sehr viel mehr geboten. Denn das besaget Gefährt ist nicht irgendein x-beliebiges Schienenfahrzeug ohne Identität und Schick. Hier dürfen wir in einem ultramodernen Shinkansen-Hochgeschwindigkeitszug von Tokio nach Kyoto brausen. Und auch unsere Mitreisenden haben mit normalen Zugpassagieren in ungefähr so viel gemein wie John Wick mit Hercule Poirot. Nicht weniger als 5 Auftragskiller haben eine Fahrt gebucht und jeder einzelne von ihnen hätte beste Chancen bei einem Tarantino-Figuren-Contest aufs Treppchen zu kommen. Manchmal ist deren selbstreferentielle Coolness ein wenig redundant, aber die meiste Zeit sorgt sie für beste Laune inmitten dieser kunterbunten, grotesken Actionfarce.
Fixpunkt ist ganz klar der nur als Ersatzmann angeheuerte Ladybug (Brad Pitt), der seit einem Therapeutenwechsel seine neue Mitte gefunden zu haben glaubt und für den vermeintlichen Routinejob nicht mal eine Waffe mitnimmt. Auf die Idee würde das ungleiche „Zwillings“-Brüderpaar Tangerine (Aaron Taylor-Jonson) und Lemon (Brain Tyree Henry) nie kommen, schließlich ist ihr enormer Bodycount mit den bloßen Händen kaum zu bewältigen. Etwas subtiler gehen da schon die beiden Killer Damen „Der Prinz“ (Joey King) und „Die Wespe“ zu Werke, wobei sie in punkto Psychopathen-Baromter ebenfalls im tiefroten Bereich zu verorten sind. Jedenfalls erweist sich der banale Auftrag einen silbernen Aktenkoffer sicher zu stellen schnell als brandgefährliches Himmelfahrtskommando, bei dem auch noch ein mexikanischer Gangster und ein russischer Yakuza kräftig mit mischen.
Leitch lässt dieses schräge Ensemble in verschiedenen Konstellationen und Eskalationsstufen aufeinander prallen und entwickelt dabei mehr Situationskomik und kinetische Energie als eine ganze Tom & Jerry-Staffel. Pitt und Taylor Johnson landen dabei die meisten Treffer und das nicht nur, wie sie sich auch gegenseitig nichts schenken. Dazu kommt ein verzwickter Plot, der erst nach und nach enthüllt wird und ebenfalls Cartoon-verdächtige Haken schlägt. Die derbe Komik und die teilweise saftig splittrige Action erinnert natürlich an Deadpool, aber anders als der dauerquasselnde Marvel-Held wirkt Ladybug trotz einer ähnlich angelegten Tollpatschigkeit und Unkaputtbarkeit immer noch irgendwie geerdet, was auch den Unterschied zwischen der Bandbreite Brad Pitts und derjenigen Ryan Reynolds deutlich macht, oder zumindest nutzt.
Die Stuntarbeit und Actionchoreographie bewegt sich auf gewohnt hohem 87Eleven-Niveau und ist eine Freude für die von all der Marvelschen Actionweichspülung arg gebeutelten Actionfangemeinde. Möglicherweise wäre eine Version des zunächst vorgesehen Antoine Fuqua noch deutlich grimmiger ausgefallen, aber Leitch drückt dem wilden Szenario seinen unverkennbaren Stempel auf und der harmoniert bestens mit dem im Kern ja völlig grotesken Szenario.
Der „Bullet Train“ ist also mehr Rollercoaster als Geisterbahn und definitiv mehr Seagal als Hitchcock. Style over Substance wäre unfair, aber Style over Suspense keine Beleidigung. Optisch sowie in Sachen Ideenreichtum, Anlage und Präsentation wird der unzimperliche Actionfreund jedenfalls bestens bedient und fährt in diesem Shinkansen definitiv erste Klasse. Eine Zugreise ist eben noch ein Erlebnis, bei dem man auch was zu sehen kriegt, gegen ein paar Turbulenzen sollte man aber dennoch gefeit sein.