Eine Kritik von buxtebrawler (Bewertung des Films: 8 / 10) eingetragen am 03.05.2011, seitdem 816 Mal gelesen
US-Regisseur Sidney Lumets („Die 12 Geschworenen“, „Network“) Film „Hundstage“ aus dem Jahre 1975 beruht auf einer wahren Begebenheit, einem völlig schiefgegangenen Bankraub in Brooklyn, New York. Lumet und seinem Team ist es gelungen, einen weitestgehenden Realismus zu erschaffen, indem er in keinem Studio drehte, sondern ein leerstehendes Gebäude nutzte, um die Bank in ihm nachzubilden und dadurch auch eine echte Straße mitten in New York zur Verfügung hatte, die aus dem Gebäude heraus sichtbar ist und auf der sich entscheidende Handlungsmomente abspielen. Seine Darsteller konditionierte er darauf, sich so natürlich wie möglich zu geben und in bestimmten Situationen zu improvisieren. Seinem Hauptdarsteller, mit einem überragenden Al Pacino als Sonny ein echter Glücksgriff, verlangte er einiges ab, während die Kamera die daraus resultierenden echten Emotionen, auch erzeugt durch Pacinos Vermögen, sich tief in seine Rolle hineinzuversetzen, mit ihr eins zu werden, gekonnt einfing.
Es ist die Geschichte eines Verlierers, eigentlich ein sympathischer Typ und alles andere als ein Unmensch, der in seinem Leben, seinem Alltag, aber keine Perspektive mehr sieht und deshalb einen Bankraub plant, der zusammen mit zwei Komplizen in möglichst wenigen Minuten über die Bühne gehen soll. Doch frei nach Murphy’s Law läuft fast alles, was schief gehen kann, schief: Direkt zu Beginn bekommt der erste Komplize kalte Füße und springt ab, in der Bank befindet sich kaum Bargeld und viel zu schnell ist die Polizei, im Schlepptau etliche Schaulustige, vor Ort und riegelt Straße und Bank ab. Sonnys verbliebener Komplize Sal (John Cazale) ist ein beunruhigend ruhiges Wrack, von dem eine gefährliche Aura ausgeht. Eigentlich überfordert mit der Situation, nimmt Sonny sie trotzdem an und versucht, sowohl sich, als auch seine Geiseln unverletzt herauszuretten und tritt in Verhandlungen mit der Polizei, die später Unterstützung vom FBI bekommt.
Der Clou des Films ist, dass die Perspektive Sonnys eingenommen wird, der sorgfältig charakterisiert wird, der Bankräuber somit nicht nur ein Gesicht, sondern auch eine Geschichte erhält und mit all seinen Ängsten, seiner Verzweiflung, aber auch seiner Hoffnung, seiner Hartnäckigkeit und seiner Wut zur Identifikationsfigur für den Zuschauer wird. Ein interessanter, ambivalenter Charakter und eine Paraderolle für Pacino. Die Szenen mit dem Medienrummel und den vielen Sonny anfeuernden Schaulustigen vor der Tür haben mich als Kind der 1980er unweigerlich an das Gladbecker Geiseldrama erinnert und somit auch über die tatsächlichen Ereignisse in New York hinaus einen Bezug zur Realität bekommen. Zu beobachten, wie Sonny die Bank verlässt, unbewaffnet mit Polizei und „Publikum“ kommuniziert und sie unter lauten „Attica! Attica!“-Rufen bezugnehmend auf die 1971 stattgefundene Gefängnisrevolte anstachelt, bis die Polizei sichtlich überfordert scheint, appelliert an den kleinen Anarchisten in uns, der seine Freude an dieser „David gegen Goliath“-Situation, in der der Alltag für ein paar Stunden radikal unterbrochen wird, hat. Packend und mitreißend!
Doch irgendwann nimmt die Handlung einen unerwarteten, absurd wirkenden Verlauf, als sich herausstellt, dass Sonny homosexuell ist und das Geld aus dem Bankraub für die Geschlechtsumwandlung seines ebenfalls verzweifelten Partners eingeplant hat. Mit Sonnys Ehefrau, seiner Mutter und eben jenem Freund, überraschend klischeefrei, untuntig gespielt von Chris Sarandon, werden weitere Charaktere eingeführt, die dem Film eine gewisse romantisch-tragisch Note verleihen und gleichzeitig die Hölle skizzieren, die Sonnys bisheriges Leben ausgemacht hat. Was zunächst übertrieben und dick aufgetragen wirkt, hat sich aber anscheinend seinerzeit tatsächlich so zugetragen und ist überliefert. Die absurdesten Drehbücher schreibt nun mal das Leben. Für das Entstehungsjahr des Films zudem verdammt mutig. Respekt an alle Beteiligten.
Nicht überliefert hingegen sind einige Szenen, die in künstlerischer Freiheit eingefügt wurden, z.B. wenn Sonny sein Gewehr aus der Hand gibt, damit eine Geisel damit herumspielen kann. Das sollte vermutlich dem Zuschauer wenig subtil einen Eindruck vom entspannten, von gegenseitiger Sympathie geprägten Verhältnis zwischen Sonny und den Geiseln vermitteln, wirkt aber kitschig und unglaubwürdig. Auch schlichen sich selbst für einen Film aus den 1970ern in der zweiten Hälfte ein paar Längen ein; ausgedehnte, detaillierte Dialogszenen, die zumindest teilweise ursprünglich dem Schnitt zum Opfer fielen, laut Lumet zugunsten einer bessere Dynamik o.ä. aber wieder eingebaut wurden. Das ist nicht 100%ig rund geglückt, hier holpert die Dramaturgie etwas.
Doch dafür entschädigt das stimmige, irrsinnig spannende, tragische Finale, das wohl – wie der gesamte Film – niemanden unberührt lassen wird.
Zugunsten des Realismus wurde übrigens fast vollständig auf den Einsatz von Filmmusik verzichtet, die man auch zu keinem Zeitpunkt vermisst. Stattdessen erfreut man sich an den vielen kleinen Details, emotionsgeladene oder auch einfach humorvolle Augenblicke, nicht selten getragen von Pacinos einzigartigem Mienenspiel.
„Hundstage“ ist ein zeitloser Klassiker, der die unerträgliche Hitze New Yorks im Sommer spürbar macht, die vermutlich mitverantwortlich für die eruptive Explosion menschlichen Freiheitsdrangs ist, die letztlich ins genaue Gegenteil führte. Gleichzeitig lenkt er sein Auge auf die unscheinbaren Verlierer der Gesellschaft, zeigt ihre Beweggründe auf und macht sie nachvollziehbar, während das Verhalten der berichterstattenden Medien als verlogene Sensationsgier entlarvt wird. Und der schwulen Bewegung dürfte „Hundstage“ wohl ebenfalls kaum geschadet haben.
Tragisch: John Cazale (Sal) starb schon 1978 an Krebs, Elizabeth Debbie Eden, die Lebensgefährtin des echten Bankräubers nach aus dem Erlös durch den Verkauf der Rechte an dessen Geschichte finanzierter Geschlechtsumwandlung 1987 an den Folgen von Aids.
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