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von PierrotLeFou

Vor 50 Jahren: Hochzeit eines italienischen Genres – Giallo-Triple, Vol. VII

Stichwörter: 1970er Bolkan Bouchet Celi Deutschland Erotik Fulci giallo Italien Kriminalfilm Lado Lazenby Mazzei Milian Montagnani Morricone Papas Strindberg Thriller

Chi l'ha vista morire (1972) & Non si sevizia un paperino (1972) & L'arma, l'ora, il movente (1972)

Gialli handeln oftmals von Schuld und Unschuld: aber gar nicht so sehr in dem Sinne, dass schuldige Täter unschuldige Opfer morden würden oder unschuldige Ermittler oder Zeugen den schuldigen Tätern nachspüren würden; das ist oftmals bloß die Prämisse. Aber im Laufe der Filmhandlungen, die mit häufig sinnlich stilisierten Filmbildern und -klängen davon handeln, dass Wahrnehmkung, Erinnerung und Schlussfolgerung trügerisch sein können, setzt dann die Erkenntnis ein, das sich Schuldige und Unschuldige, ja dass sich Schuld und Unschuld gar nicht so strikt trennen lassen; dass da bloß graduelle Unterschiede walten, die manchmal sogar irritierend gering ausfallen. Täter(innen) erweisen sich vielfach als nicht zweifelsfrei zurechnungsfähig, Opfer, Täter(innen) und Zeugen erweisen sich allesamt als in Intrigenspiele verstrickt, Ermittler lassen Täter quasi die Drecksarbeit für sich selbst erledigen, Opfer entpuppten sich postum als schuldig... Und als vermeintlich unschuldiges Publikum nimmt man mehrfach die zweifelsohne dem perversen Nervenkitzel dienliche Perspektive tötender Täter(innen) ein. Man kann viele solcher Beispiele finden, in denen die moralische Beurteilung erschwert wird. Und weder die Polizei noch die katholische Kirche schien in diesem Zusammenhang von solchen Grenzverwischungen ausgenommen zu sein, ganz im Gegenteil. Und so wurde etwas ganz anderes im giallo zum Sinnbild der Unschuld: das Kind. Das Kind, das bei einem Argento in "Il gatto a nove code" (1971) oder "Occhiali neri" (2022) dem erwachsenen Gehandicapten bei seinen Ermittlungen als Freund und Helfer zur Seite steht, das Kind, welches bei Argento in "Profondo Rosso" (1975) Zeuge eines traumatisierenden Mordes wird und ebendort sogar zu einem gestörten, gefährlichen Erwachsenen heranwächst, das Kind, welches als wahrhaft unschuldiges Mordopfer – das nichts mit lustvollen, promiskuitiven oder gar ehebrecherischen Frauen zu tun hat, die ganz anders konnotiert werden – sein Leben lässt.
"Chi l'ha vista morire" ist Aldo Lados am 12. Mai 1972 uraufgeführter kleiner Klassiker, der nicht bloß seinem "Malastrana" (1971) in nichts nachsteht, sondern wie dieser Parallelen zum späteren "Don't Look Now" (1973) Nicholas Roegs aufweist (in dem ebenfalls die Farbe Rot wie hier eine Rolle spielt und der ebenfalls Themenfelder der gialli beackert). In Venedig verliert (Ex-Bond) George Lazenby seine Tochter an einen Kindermörder und stürzt sich alsbald verbissen in die Aufklärung des Falles (über den sich ein Kinderlied von Ennio Morriccone legt), derweil so manche Fassade arg zu bröckeln beginnt. Mit (Ex-Bond-Bösewicht) Adolfo Celi und giallo-Star Anita Strindberg ergeben der starke Score und die souveräne Inszenierung Lados ohnehin einen sehr sehenswerten Film, aber der gute Status im Genre verdankt sich auch der Auflösung des Films, der die Schuld schließlich bei einem Vertreter der Kirche ausmacht, der zwar durchaus auch überlegt handelt, aber zugleich an einem Kindheitstrauma leidet, das auf die Prostitution der eigenen Mutter zurückgeht. (Hier sind männliche Destruktion und weiblicher Reiz einmal mehr auf eine Weise verbunden, die sowohl Angriffsfläche bietet als auch progressiven Lesarten dienlich sein kann.) Zwischen Hitchcocks "Psycho" (1960) und seinem "Marnie" (1964) oszilliert dieser Film, der in vielerlei Hinsicht typisch für das ganze Genre ist. Und der mit dem ewigen Kind im frommen Täter und seinen kindlichen Opfern ganz besonders intensiv dazu anregt, über die Unschuld im giallo zu sinnieren. In der Giallo Collection Teil 2 von Koch Media liegt Lados feine Perle in guter Gesellschaft auf DVD vor: Fassungseintrag von SpeedyGonzales76
In eine ganz ähnliche Kerbe schlägt auch Lucio Fulcis am 29. September 1972 uraufgeführter "Non si sevizia un paperino", der mit Florinda Bolkan, Barbara Bouchet, Tomas Milian und der vor einer knappen Woche verschiedenen Irene Papas superb besetzt daherkommt und ebenfalls von Kindermorden handelt. Diese werden erst einer Frau zugeschrieben, die die Verbrechen, die sie nicht begangen hat, büßen muss. Deutlicher als Lados Film verhandelt Fulcis giallo eine Misogynie seiner Figuren, deren eigentliches Zielobjekt eigentlich ein Geistlicher sein müsste, der offenbar unzurechnungsfähig in göttlicher Mission zu morden wähnt, solange seine Opfer als Kinder noch unschuldig sind. Dass er am Ende eindrücklich, Fulcis späteren Splatter-Exzesse vorwegnehmend, zugrundegeht, schwächt den gelegentlich anzutreffenden Vorwurf ab, dass der Film selbst mit seiner Gewalt an Frauen, die eben nur einen Teil seiner gesamten Gewalt ausmacht, misogyn sei: Der Geistliche stirbt hier einen ähnlichen Tod wie die Titelfigur in Matthew Gregory Lewis' gothic novel "The Monk" (1796); hält hier aber seine Sünden für fromm, während Lewis' gefallener Mönch um seine Sündhaftigkeit durchaus noch wusste.
Ein limitiertes Leatherbook des Fulci-Klassikers, das den Film auf Blu-ray und mit einer angefertigten deutschen Synchronisation enthält, ist vor sieben Jahren bei '84 Entertainment erschienen und weiteren "Non si sevizia un paperino"-Blu-ray-Fassungen des Labels vorangegangen: Fassungseintrag von Stevie666
Und auch der am 23. November 1972 uraufgeführte "L'arma, l'ora, il movente" von Francesco Mazzei verhandelt – inszenatorisch und inhaltlich etwas weniger fesselnd – wieder ähnliche, wenn auch erheblich abgeschwächte Themen: Auch hier hat man es mit einem sündigen Geistlichen zu tun – der allerdings selbst ein Mordopfer wird, aber zuvor wenig keusch der Fleischeslust gefrönt hat und insofern als Heuchler erscheint. Dass "L'arma, l'ora, il movente" dann auch Züge der sogenannten nunsploitation-Ecke besitzt, die bezeichnenderweise gerade in Italient boomte, passt da gut ins Bild. Ein wichtiger Zeuge in diesem Mordfall ist ein Knabe, der sich – seinerseits von toten Augen ausgestopfter Vögel beobachtet und vom Hausmeister überwacht – als Voyeur betätigt hat. Er wird dem ermittelnden Commissario (Renzo Montagnani) Hinweise geben können – ist aber seinerseits nun auch gefährdet.
In der Giallo Collection Teil 1 von Koch Media liegt Mazzeis weniger spektakulärer giallo auf DVD vor: Fassungseintrag von ETE-89


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